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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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Stimme. Ein paar Tage. Bitte sehr, nichts zu danken.»
    Der Plattenverkäufer macht sich eine Notiz, hebt den Tonarm an den Anfang zurück, setzt die Nadel auf das schimmernde schwarze Vinyl und träumt bei «Por qué lloras, blanca niña» von jüdischen Hirtenjungen, die auf sternenerleuchteten iberischen Hängen ihre Leiern zupfen.
     
    23
     
    Luisa Rey bemerkt den staubigen schwarzen Chevy nicht, der langsam an ihrem Wohnhaus vorbeifährt. Seit sie den ersten langen Brief gelesen hat, der bei Rufus Sixsmith gefunden wurde, hat sie von kaum etwas Notiz genommen. Bill Smoke, der Fahrer des Chevy, prägt sich die Adresse ein: 108, Pacific Eden Apartments.
    In den letzten anderthalb Tagen hat Luisa Sixsmiths Briefe mindestens ein Dutzend Mal gelesen. Sie haben sie tief verstört. Robert Frobisher, ein Studienfreund Sixsmiths, schrieb sie im Sommer 1931 während eines verlängerten Aufenthaltes auf einem Schloss in Belgien. Das Beunruhigende an ihnen ist nicht das wenig schmeichelhafte Licht, das sie auf einen willensschwachen, jungen Rufus Sixsmith werfen; es sind die verwirrend lebendigen Bilder von fremden Orten und Menschen, die beim Lesen in ihr wachgerufen werden. So lebendig, dass es nur Erinnerungen sein können. Die pragmatische Journalistentochter versucht sich diese ‹Erinnerungen› damit zu erklären, dass ihre Phantasie seit dem Tod ihres Vaters überreizt ist, aber diese Erklärung wird durch eine ganz bestimmte Briefstelle zunichte gemacht. Darin erwähnt Robert Frobisher ein kometenförmiges Muttermal zwischen seinem Schulterblatt und dem Schlüsselbein.
    Ich glaube nicht an solchen Schwachsinn. Nein. Nein. Nein.
    Die Renovierungsarbeiten in der Eingangshalle der Pacific Eden Apartments sind in vollem Gange. Der Fußboden ist mit Planen ausgelegt, ein Elektriker stochert in einer Lampenhalterung, irgendwo wird gehämmert. Malcolm, der Hausmeister, erblickt Luisa und ruft ihr zu: «Hey, Luisa! Vor zwanzig Minuten ist ein ungebetener Gast hinauf zu Ihrer Wohnung gerannt!» Aber seine Stimme geht im Bohrlärm unter, er hat jemanden vom Bauamt an der Strippe, mit dem er über Vorschriften und Genehmigungen verhandeln muss, und Luisa ist ohnehin schon im Fahrstuhl verschwunden.
     
    24
     
    «Überraschung», sagt Hal Brodie trocken, als er dabei ertappt wird, wie er Bücher und Schallplatten aus Luisas Regal nimmt und in eine Sporttasche packt. «Hey», sagt er, um sein schlechtes Gewissen zu überspielen, «du hast dir die Haare kurz schneiden lassen.»
    Luisa ist nicht sonderlich überrascht. «Tun das nicht alle sitzen gelassenen Frauen?»
    Hal schnalzt spöttisch mit der Zunge.
    Luisa ärgert sich über sich selbst. «Soso. Der Tag der Rückforderung.»
    «Bin gleich fertig.» Hal wischt sich den nicht vorhandenen Staub von den Händen. «Gehören Wallace Stevens’ Ausgewählte Gedichte dir oder mir?»
    «Das war ein Weihnachtsgeschenk von Phoebe an uns beide. Ruf sie an und lass sie entscheiden. Oder reiß die ungeraden Seiten raus und lass mir die geraden. Das ist ja wie eine illegale Hausdurchsuchung. Du hättest vorher anrufen und mich vorwarnen können.»
    «Hab ich ja. Es war aber nur dein Anrufbeantworter dran. Schmeiß ihn weg, wenn du ihn nie abhörst.»
    «Red keinen Unsinn, der hat ein Vermögen gekostet. Und, was führt dich neben deiner Liebe für moderne Lyrik sonst in die Stadt?»
    «Drehortsuche für Starsky und Hutch .»
    «Ich dachte, Starsky und Hutch wohnen in New York.»
    «Starsky wird entführt. Es kommt zu einer Schießerei auf der Bay Bridge von Buenas Yerbas. Außerdem gibt’s eine Verfolgungsjagd zur Rushhour, bei der David und Paul über Autodächer rennen. Es wird verdammt schwierig, der Verkehrspolizei die Drehgenehmigung abzuluchsen, aber wenn wir die Szene nicht vor Ort drehen, verlieren wir auch noch den letzten Anschein künstlerischer Glaubwürdigkeit.»
    «Hey. Blood on the Tracks nimmst du nicht mit.»
    «Die gehört mir aber.»
    «Jetzt nicht mehr.» Luisa meint es ernst.
    Brodie holt die Platte mit ironisch-fügsamer Miene aus der Sporttasche. «Das mit deinem Vater tut mir ehrlich leid.»
    Luisa nickt, merkt, wie die Trauer sie wieder überfällt, und schaltet auf Abwehr. «Ja.»
    «Irgendwie war es wohl … eine Erleichterung.»
    Stimmt, aber so was dürfen nur die Hinterbliebenen sagen . Luisa verkneift sich eine scharfe Bemerkung. Sie denkt daran, dass ihr Vater Hal im Scherz immer «das Fernsehkind» genannt hat. Beide betrachten die Lücken im

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