Der Wolkenatlas (German Edition)
anfangen, wenn Sie ihn zufällig in die Hände bekämen?»
«So schnell wie möglich damit an die Öffentlichkeit gehen.»
«Ist Ihnen klar …» Ich kann es ihr nicht sagen.
«Dass die obersten Ränge lieber mich tot als HYDRA den Bach runtergehen sehen? Das ist im Augenblick so ziemlich das Einzige, was mir klar ist.»
«Ich kann Ihnen nichts versprechen.» Mein Gott, wie erbärmlich . «Ich bin Wissenschaftler geworden, weil … die Wissenschaft in schmutzigen Flüssen nach Gold sucht. Das Gold ist die Wahrheit. Ich … ich weiß nicht, was ich tun soll …»
«Journalisten fischen in ebenso schmutzigen Gewässern.»
Der Mond steht über dem Wasser.
Schließlich sagt Luisa: «Tun Sie, womit Sie leben können und Ihr Gewissen.»
32
Luisa beobachtet die Golfer, die an diesem stürmischen, sonnigen Morgen über das saftige Grün ziehen, und überlegt, was wohl passiert wäre, wenn sie Isaac Sachs gestern Nacht mit in ihr Zimmer genommen hätte. Sie ist zum Frühstück mit ihm verabredet.
Sie hat ein schlechtes Gewissen, weil sie Javier nicht angerufen hat. Du bist weder seine Mutter noch sein Vormund, sondern nur eine Nachbarin. Das überzeugt sie nicht, aber so, wie sie es damals nicht übers Herz brachte, den heulenden Jungen neben dem Müllschlucker sitzen zu lassen, sondern sich vom Hausmeister die Schlüssel borgte und im Müllcontainer nach seinem kostbaren Briefmarkenalbum wühlte, so weiß sie jetzt nicht, wie sie ihn wieder loswerden soll. Er hat niemanden außer ihr, und Elfjährige sind nun mal Nervensägen. Und außerdem, wen hast du außer ihm ?
«Sie sehen aus, als trügen Sie alle Last der Welt auf Ihren Schultern», sagt Joe Napier.
«Joe. Setzen Sie sich.»
«Gern, wenn Sie nichts dagegen haben. Ich habe schlechte Neuigkeiten. Isaac Sachs lässt sein aufrichtiges Bedauern ausrichten, aber er muss Ihnen leider einen Korb geben.»
«Aha?»
«Alberto Grimaldi musste heute früh zu unserer Baustelle auf Three Mile Island fliegen – um eine Gruppe Deutscher zu umwerben. Sidney Jesops sollte ihn zur technischen Unterstützung begleiten, aber sein Vater hatte einen Herzanfall, und so war Isaac dran.»
«Oh. Ist er schon fort?»
«Leider ja. Er ist jetzt …», Napier sieht auf die Armbanduhr, «… über den Colorado Rockies und kuriert wahrscheinlich seinen Kater.»
Lass dir bloß deine Enttäuschung nicht anmerken . «Wann kommter zurück?»
«Morgen früh.»
«Oh.» Scheiße, Scheiße, Scheiße.
«Ich bin zwar doppelt so alt und dreimal so hässlich wie Isaac, aber Fay bat mich, Ihnen das Gelände zu zeigen. Sie hat ein paar Leute zum Interview bestellt, die vielleicht interessant für Sie sind.»
«Wirklich nett von Ihnen, Joe, dass Sie so viel von Ihrem kostbaren Wochenende für mich opfern», sagt Luisa. Wussten Sie, dass Sachs im Begriff stand überzulaufen? Woher? Ist Sachs etwa ein Spitzel? Das ist mir alles zu hoch.
«Ich bin ein einsamer alter Mann mit zu viel Freizeit.»
33
«Die R-&-D-Abteilung wird also Hühnerstall genannt, weil hier die Eierköpfe arbeiten», sagt Luisa zwei Stunden später lachend. Sie kritzelt eifrig in ihr Notizheft, während Joe Napier ihr die Tür zum Kontrollraum aufhält. «Wie nennen Sie das Reaktorgebäude?»
Ein Kaugummi kauender Techniker ruft: «Heimat der Helden.»
Sehr witzig!, sagt Napiers Miene. «Das bleibt natürlich unter uns.»
«Hat Joe Ihnen schon erzählt, wie wir den Sicherheitsflügel nennen?», fragt der Techniker grinsend.
Luisa schüttelt den Kopf.
«Planet der Affen.» Er wendet sich an Napier. «Machen Sie mich mit Ihrem Gast bekannt, Joe.»
«Carlo Böhn, Luisa Rey. Luisa ist Reporterin, Carlo ist unser technischer Leiter. Wenn Sie noch ein bisschen bleiben, dann lernen Sie noch einen Haufen anderer Bezeichnungen für ihn kennen.»
«Falls Joe Sie für fünf Minuten entbehren kann, führe ich Sie herum in meinem kleinen Reich.»
Napier beobachtet Luisa, während Böhn ihr den neonbeleuchtetenRaum voller Schalttafeln und Messgeräte zeigt. Handlangerüberprüfen Ausdrucke, kontrollieren stirnrunzelnd Messwerte,haken Listen ab. Böhn flirtet mit ihr, und als Luisa ihm den Rückenzukehrt, sieht er kurz zu Napier und deutet mit den HändenMelonenbrüste an. Napier schüttelt ernst den Kopf. Milly hätte dich bemuttert, denkt er . Sie hätte dich zu uns eingeladen, dich mit Essen voll gestopft und über alles genörgelt, was es an dir auszusetzen gibt. Er erinnert sich an Luisa, als sie noch
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