Der Wolkenatlas (German Edition)
Bill Smoke. Der Leiter der Umweltschutzbehörde langweilt ihn mit einer nicht enden wollenden Geschichte aus Henry Kissingers Schulzeit, und Grimaldi wendet sich mit einer Rede über die Macht an ein imaginäres Publikum.
«Macht. Was verstehen wir darunter? Die Fähigkeit, über das Geschick anderer Menschen zu bestimmen. Meine Herren Wissenschaftler, Baulöwen und Meinungsbildner: Wenn ich will, steige ich in La Guardia in meinen Jet, und noch ehe ich in BY lande, seid ihr ein Niemand. Meine Herren Wall-Street-Moguln, Funktionäre und Richter, mag sein, dass ich etwas länger brauche, euch von eurem hohen Ross zu stoßen, aber euer Fall wird ebenso tief sein.» Grimaldi prüft mit einem Blickauf seinen Gesprächspartner, ob seine Aufmerksamkeit verlangtwird – nein. «Aber woran liegt es, dass manche Menschen die Herrschaft über andere erlangen, während die breite Masse ein Leben lang Befehlsempfänger bleibt, Vieh? Die Antwort ist eine Dreifaltigkeit. Erstens: die gottgegebene Gabe Charisma. Zweitens: die Disziplin, diese Gabe bis zur Vollendung gedeihen zu lassen, denn obwohl der fruchtbare Mutterboden der Menschheit voller Talente steckt, wird unter zehntausend Samenkörnern nur ein einziges zur Blüte gelangen – die übrigen verkümmern – mangels Disziplin.» Grimaldi erhascht einen flüchtigenBlick auf Fay Li, die Luisa Rey zu Spiro Agnew und seinem Hofstaatmanövriert. Die lästige Reporterin ist im wirklichen Lebenhübscher als auf den Fotos: So hat sie Sixsmith also eingewickelt . Erbegegnet Bill Smokes Blick. «Drittens: der Wille zur Macht. Das bleibt das große Rätsel angesichts der unterschiedlichen Schicksale der Menschen. Was veranlasst den einen, Macht anzuhäufen, während die Mehrheit seiner Landsleute Macht verliert, falsch einsetzt oder sogar scheut? Sucht? Reichtum? Überlebenswille? Natürliche Auslese? Nein, all dies sind nur Vorwände und Folgen der Macht, aber nicht ihre Ursache. Die einzig mögliche Antwort lautet: Es gibt keinen Grund. Wir sind so, wie wir sind. Was zählt, ist, ‹wer› die Macht hat und ‹wie› er sie nutzt, nicht das ‹warum›.»
Der Leiter der Umweltschutzbehörde schüttelt sich vor Begeisterung über seine Pointe. Grimaldi kichert grinsend in sich hinein. «Köstlich, Tom, einfach köstlich .»
30
Luisa Rey spielt die treudoofe Reporterin, um Fay Li zu zeigen, dass sie keine Bedrohung darstellt. Nur so wird man ihr den nötigen Freiraum lassen, Sixsmiths Kodissidenten aufzuspüren. Joe Napier, der Sicherheitschef, erinnert Luisa an ihren Vater – ernst, schweigsam, ungefähr dasselbe Alter, ähnlich fortgeschrittene Glatzenbildung. Während des opulenten Zehn-Gänge-Menüs hat sie ihn ein- oder zweimal dabei ertappt, wie er sie beobachtete: nicht lüstern, sondern nachdenklich. «Fühlen Sie sich auf Swannekke Island nicht wie im Gefängnis, Fay?»
«Hier? Nein, Swannekke ist das Paradies!», schwärmt die Pressefrau. «Nach Buenas Yerbas ist es nur eine Stunde. Im Süden liegt LA, meine Familie lebt in San Francisco, idealer geht’s nicht. Günstige Einkaufsmöglichkeiten, Versorgungseinrichtungen, ein kostenloses Krankenhaus, saubere Luft, keine Kriminalität, überall Blick aufs Meer. Und die Männer», raunt sie Luisa vertrauensvoll zu, «sind alle gründlich durchgecheckt. Ich habe nämlich Zugang zu den Personalakten und weiß, dass hier keine Vollidioten rumschwirren. Wenn man vom Teufel spricht – Isaac! Isaac! Sie sind verhaftet.» Fay Li hält Isaac Sachs am Arm fest. «Sie erinnern sich doch noch an Luisa Rey? Sie sind sich neulich zufällig begegnet.»
«Ich lasse mich gern verhaften – hi, Luisa.»
Luisa merkt seinem Händedruck eine gewisse Nervosität an.
«Miss Rey will einen Artikel über das Leben auf Swannekke schreiben», sagt Fay Li.
«Tatsächlich? Wir sind ein sehr langweiliges Völkchen. Hoffentlich kriegen Sie Ihre Zeilen voll.»
Fay Li setzt ihr strahlendstes Lächeln auf. «Isaac findet sicher etwas Zeit, um Ihre Fragen zu beantworten, Luisa, nicht wahr, Isaac?»
«Ich bin der Langweiligste unter den Langweilern.»
«Glauben Sie ihm kein Wort, Luisa», warnt Fay Li. «Das gehört zu Isaacs Taktik. Sowie Sie eine Schwäche zeigen, schlägt er zu.»
Der vermeintliche Ladykiller schaukelt verlegen auf den Absätzen und lächelt seine Zehen an.
31
Zwei Stunden später sitzt ein zusammengesunkener Isaac Sachs mit Luisa im Erkerfenster und analysiert sich selbst: «Isaac Sachs hat einen tragischen
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