Der Wolkenatlas (German Edition)
angerufen», fährt Li fort, «und gefragt, ob sie ein paar von unseren Leuten zum Thema ‹Ein Tag im Leben eines Wissenschaftlers› interviewen könnte. Ich habe sie heute Abend zum Bankett ins Hotel eingeladen und versprochen, ihr am Wochenende ein paar Leute vorzustellen. Übrigens», sie wirft einen Blick auf die Armbanduhr, «ich bin in einer Stunde dort mit ihr verabredet.»
«Ich habe mein Okay gegeben, Mr. Grimaldi», sagt Napier. «Mir ist es lieber, sie schnüffelt vor unserer Nase herum, dann können wir sie im Auge behalten.»
«Goldrichtig, Joe, goldrichtig. Checken Sie, ob sie eine Bedrohung darstellt. Und machen Sie dabei den morbiden Verdächtigungen über den armen Rufus ein Ende.» Bei allen verhaltenes Lächeln. «Fay, Joe, das wär’s, danke für Ihre Zeit. Bill, ich muss noch kurz über Toronto mit Ihnen sprechen.»
Der Boss und sein Mann fürs Grobe bleiben allein zurück.
«Unser Freund Lloyd Hooks», sagt Grimaldi. «Er macht mir Sorgen.»
Bill Smoke denkt darüber nach. «Was genau?»
«Er legt einen Übermut an den Tag, als hätte er vier Asse auf der Hand. Das gefällt mir nicht. Behalten Sie ihn im Auge.»
Bill Smoke neigt den Kopf zur Seite.
«Außerdem sollten Sie für diese Rey einen Unfall in petto haben. Ihre Arbeit am Flughafen war vorbildlich, aber Sixsmith war ein ranghoher ausländischer Staatsbürger, und wir müssen verhindern, dass die Frau irgendwelche Mordgerüchte ausgräbt.» Er deutet mit dem Kopf hinter Napier und Li her. «Ahnen die beiden was wegen Sixsmith?»
«Li denkt gar nichts. Sie macht PR, basta. Napier sieht nicht hin. Es gibt den Blinden, Mr. Grimaldi, es gibt den vorsätzlich Blinden, und es gibt den Blinden, der kurz vor der Pensionierung steht.»
28
Isaac Sachs sitzt zusammengesunken im Erkerfenster der Swannekke-Hotelbar und betrachtet die Yachten im zarten Abendblau. Auf dem Tisch steht ein nicht angerührtes Bier. Die Gedanken des Wissenschaftlers rasen vom Tod Rufus Sixsmiths zu seiner Angst, dass die heimlich erstellte Kopie des Berichts gefunden wird, und weiter zu Napiers drohendem Appell an seine Verschwiegenheit. Die Abmachung, Dr. Sachs, lautet, dass Ihre Ideen Eigentum von Seaboard sind. Vor einer Abmachung mit einem Mann wie Mr. Grimaldi werden Sie sich wohl kaum drücken wollen, oder? Plump, aber wirkungsvoll.
Sachs denkt an die Zeit zurück, als die Angst im Bauch noch nicht sein ständiger Begleiter war. Er sehnt sich nach seinem alten Labor in Connecticut. Eine Welt aus Mathematik, Energie und atomaren Zerfallskaskaden, die er erforschen durfte. Mit großer Politik, wo falsche Loyalität dazu führen kann, dass man mit an die Wand gespritztem Gehirn in einem Hotelzimmer endet, will er nichts zu tun haben. Sie werden dieses Dokument vernichten, Sachs, jede verdammte Seite.
Seine Gedanken rasen weiter: Wasserstoffbildung, eine Explosion, überfüllte Krankenhäuser, die ersten Todesfälle durch Strahlenvergiftung. Die offizielle Untersuchung. Die Sündenböcke. Sachs schlägt die Fingerknöchel gegeneinander. Noch ist sein Verrat an Seaboard ein reines Gedankenspiel. Trau ich mich auch zu handeln? Er reibt sich die müden Augen. Der Hotelmanager kommt mit einer Schar Floristen in den Bankettsaal. Eine Frau schlendert die Treppe hinunter, hält nach jemandem Ausschau, der noch nicht da ist, und betritt die belebte Bar. Sachs bewundert ihren geschmackvollen Wildlederhosenanzug, die schlanke Figur, die schlichte Perlenkette. Der Barmann schenkt ihr ein Glas Weißwein ein und macht einen Witz, für den er anerkennende Worte, aber kein Lächeln erntet. Sie dreht sich zu ihm um, und er erkennt die Frau, die er vor fünf Tagen irrtümlich für Megan Sixsmith gehalten hat: Sein Magen krampft sich zusammen, und er eilt mit abgewandtem Gesicht hinaus auf die Veranda.
Luisa schlendert zum Erkerfenster. Auf dem Tisch steht ein volles Bier, aber da der Besitzer nirgends zu sehen ist, setzt sie sich auf den vorgewärmten Platz. Es ist der beste Platz im ganzen Haus. Sie beobachtet die Yachten im zarten Abendblau.
29
Alberto Grimaldis Blick wandert durch den kerzenerleuchteten Bankettsaal. Stimmengewirr erfüllt den Raum, aber es wird mehr geredet als zugehört. Seine Rede hat mehr und längere Lacher geerntet als die von Lloyd Hooks, der sich gerade ernsthaft mit Grimaldis Vize William Wiley unterhält. Was haben die beiden nur so Wichtiges zu besprechen? Grimaldi macht sich im Geiste eine weitere Notiz für
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