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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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grausam behandelt, nein, eine richtige Frau hätte seinen Scherz als Kompliment aufgefasst.» Fay Li streicht die Falten in der Tischdecke glatt. «Haben Sie in Ihrem Job auch mit solchem Mist zu kämpfen?»
    Luisa denkt an Nussbaum und Jakes. «Ständig.»
    «Vielleicht werden unsere Töchter mal in einer freien Welt leben, aber wir? Vergessen Sie’s. Wir müssen uns selber helfen, Luisa. Die Männer werden es bestimmt nicht tun.»
    Die Journalistin spürt einen Wechsel in der Tagesordnung.
    Fay Li beugt sich vor. «Ich hoffe, Sie betrachten mich hier auf Swannekke Island als Ihre persönliche Informationsquelle.»
    Luisa tastet sich zaghaft vor. «Journalisten brauchen Informanten, Fay, und ich werde bestimmt darauf zurückkommen. Ich muss Sie aber vorwarnen, dass das Spyglass nicht über die Mittel verfügt, Sie so zu vergüten, wie Sie es vielleicht …»
    «Die Männer haben das Geld erfunden. Frauen eher die gegenseitige Hilfe.»
    Nur der Kluge weiß Fallen von guten Gelegenheiten zu unterscheiden , denkt Luisa. «Ich wüsste nicht … wie eine kleine Reporterin einer Frau in Ihrer Stellung helfen kann, Fay.»
    «Unterschätzen Sie sich nicht. Freundlich gesinnte Journalisten geben wertvolle Verbündete ab. Wenn der Zeitpunkt kommt, an dem Sie wichtigere Themen besprechen möchten als die Pommes-frites-Menge, die ein Techniker auf Swannekke pro Jahr verdrückt», ihre Stimme senkt sich zu einem Flüstern, das viel leiser ist als das Klappern der Bestecke, die Pianobar-Musik und das Lachen im Hintergrund, «zum Beispiel, nur rein hypothetisch, die Daten, die Dr.   Sixsmith über den HYDRA-Reaktor zusammengestellt hat, werden Sie mit Sicherheit feststellen, dass ich sehr viel kooperativer bin, als Sie glauben.»
    Fay Li schnipst mit den Fingern, und der Dessertwagen setzt sich in Bewegung. «Ich empfehle das Zitronen-Melonen-Sorbet. Äußerst kalorienarm, gaumenneutralisierend, ideal vor dem Kaffee. Vertrauen Sie mir?»
    Die Verwandlung ist so komplett, dass Luisa sich fragt, ob sie richtig gehört hat. «Ich vertraue Ihnen.»
    «Schön, dass wir einander verstehen.»
    Wie viel Betrug ist im Journalismus zulässig? , überlegt Luisa. Sieerinnert sich an die Antwort, die ihr Vater ihr eines Nachmittagsim Krankenhausgarten gab: Ob ich je gelogen habe, um an eine Story zu kommen? Das Blaue vom Himmel, jeden Tag vorm Frühstück, wenn es mich der Wahrheit auch nur einen Deut näher gebracht hat.
     
    36
     
    Das Klingeln des Telefons reißt Luisa aus ihrem Traum, und sie wacht in einem mondbeschienenen Zimmer auf. Ihre Hand ertastet die Lampe, den Radiowecker und schließlich den Hörer. Einen Augenblick lang weiß sie weder, wer sie ist, noch in welchem Bett sie liegt. «Luisa?», sagt eine Stimme aus dem dunklen Nichts.
    «Ja, Luisa Rey.»
    «Luisa, ich bin’s, Isaac, Isaac Sachs, ich rufe von außerhalb an.»
    «Isaac! Wo stecken Sie? Wie spät ist es? Warum …»
    «Sch, sch, Entschuldigung, ich wollte Sie nicht wecken, und Entschuldigung wegen gestern Morgen. Hören Sie, ich bin in Boston. Hier an der Ostküste ist es halb acht, das heißt, in Kalifornien geht bald die Sonne auf. Hallo? Luisa? Sind Sie noch dran?»
    Er hat Angst . «Ja, Isaac, ich höre Ihnen zu.»
    «Vor meiner Abreise habe ich Garcia ein Geschenk für Sie gegeben, nur ein kleines Souvenir.» Er schlägt bewusst einen beiläufigen Ton an. «Verstehen Sie?»
    Wovon redet er, in Gottes Namen?
    «Hören Sie, Luisa? Garcia hat ein Geschenk für Sie.»
    Der schon wache Teil von Luisas Gehirn schaltet sich ein. Isaac Sachs hat den Sixsmith-Bericht in deinem VW versteckt. Du hast ihm erzählt, der Kofferraum lässt sich nicht mehr abschließen. Er hält das Hotel für unsicher und glaubt, dass wir abgehört werden. «Das ist abernett von Ihnen. Hoffentlich haben Sie sich nicht allzu sehr in Unkostengestürzt.»
    «Es ist jeden Cent wert. Tut mir leid, wenn ich Sie beim Schönheitsschlaf gestört habe.»
    «Macht nichts. Sonst kriege ich noch eine Überdosis. Guten Flug und bis bald. Essen wir mal zusammen?»
    «Sehr gern. So, das Flugzeug wartet.»
    «Guten Flug.» Luisa legt auf.
    Soll ich später fahren, wie geplant? Oder so schnell wie möglich abhauen?
     
    37
     
    Ein paar hundert Meter weiter, im Wissenschaftlerdorf, ist noch jemand auf den Beinen. Joe Napier blickt hinaus in den Nachthimmel. In einer Stunde geht die Sonne auf. Die elektronische Überwachungsanlage nimmt die Hälfte des Zimmers ein. Aus einem Lautsprecher dringt das Summen

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