Der Wolkenatlas (German Edition)
eine altkluge Sechsjährigewar. Das muss zwanzig Jahre her sein, damals beim letzten Treffen des 10. Reviers. Warum musste sich die freche kleine Göre unter allen Berufen ausgerechnet diesen aussuchen? Warum musste es von allen Reportern ausgerechnet Lester Reys Tochter sein, die Sixsmiths Tod auf die Schliche kommt? Warum so kurz vor meiner Pensionierung? Wer hat sich diesen makabren Scherz ausgedacht? Die Stadt?
Napier könnte heulen.
34
Während draußen die Sonne untergeht, durchsucht Fay Li zügig und routiniert Luisa Reys Zimmer. Sie überprüft den Spülkasten, sucht nach Zwischenräumen unter der Matratze und losen Stücken im Teppichboden, schaut in die Minibar und in den Wandschrank. Das Original könnte auf ein Viertel seiner Größe herunterkopiert worden sein. Von ihrer treuen Sekretärin weiß sie, dass Sachs und Luisa sich bis in die frühen Morgenstunden unterhalten haben. Sachs wurde heute Morgen aus dem Weg geschafft, aber er ist nicht blöd und könnte das Dokument irgendwo für sie hinterlegt haben. Sie schraubt die Muschel vom Telefonhörer und entdeckt Napiers Lieblingswanze, die als Widerstand getarnt ist. Als Nächstes filzt sie Luisas Reisetasche, aber außer Zen und die Kunst , ein Motorrad zu warten ist nichts Gedrucktes zu finden. Sie blättert im Notizbuch der Reporterin, das auf dem Schreibtisch liegt, aber Luisas unleserliches Steno gibt nicht viel preis.
Fay Li überlegt, ob sie ihre Zeit verschwendet. Zeitverschwendung? Mexxon Oil hat das Angebot für den Sixsmith-Bericht auf hunderttausend Dollar erhöht. Und wenn sie es mit den hunderttausend ernst meinen, zahlen sie auch eine Million. Eine Million ist ein Spottpreis, wenn dafür das gesamte Atomenergieprogramm in Verruf gerät und vorzeitig zu Grabe getragen wird. Such weiter.
Das Telefon klingelt viermal: das Zeichen, dass Luisa Rey im Foyer auf den Fahrstuhl wartet. Li vergewissert sich, dass alles wieder an seinem Platz liegt, verlässt das Zimmer und geht durchs Treppenhaus hinunter ins Foyer. Zehn Minuten später ruft sie von der Rezeption aus Luisa an. «Hi, Luisa, hier spricht Fay. Schon lange zurück?»
«Hat gerade gereicht, um schnell unter die Dusche zu springen.»
«Ihr Nachmittag war ergiebig, hoffe ich?»
«Sehr sogar. Das Material reicht für zwei bis drei Artikel.»
«Großartig. Sagen Sie, wie wär’s mit Abendessen im Golfclub, falls Sie nichts anderes vorhaben? Die Hummer von Swannekke sind unübertroffen.»
«Eine ziemlich gewagte Behauptung.»
«Ich schlage vor, Sie überzeugen sich selbst.»
35
Auf einem Teller türmen sich leere Hummerschalen. Luisa und Fay Li tauchen die Finger in Schälchen mit Zitronenwasser, und Li gibt dem Kellner durch ein Zucken der Augenbraue zu verstehen, dass er abräumen darf. «Mensch, hab ich gekleckert.» Luisa lässt ihre Serviette fallen. «Ich bin eindeutig die Klassenwutz, Fay. Sie dagegen könnten ein Mädchenpensionat in der Schweiz eröffnen.»
«Die meisten bei Seaboard sehen mich anders. Kennen Sie schon meinen Spitznamen? Nein? ‹Mr. Li›.»
Luisa weiß nicht recht, wie sie reagieren soll. «Das müssen Sie mir genauer erklären.»
«Es war in meiner ersten Woche hier. Ich bin oben in der Kantine und mache mir einen Kaffee. Ein Ingenieur kommt auf mich zu und fragt, ob ich ihm bei einem technischen Problem helfen kann. Seine Kumpel stehen feixend im Hintergrund. ‹Das glaube ich kaum›, antworte ich. Der Kerl sagt: ‹Aber sicher können Sie.› Ich soll ihm den Kolben ölen und den Druck von den Eiern nehmen.»
«Wie alt war der Typ denn? Dreizehn?»
«Vierzig, verheiratet, zwei Kinder. Seine Kumpane prusten vor Lachen. Was würden Sie tun? Ihn mit einer geistreichen Bemerkung zum Schweigen bringen, damit alle merken, wie verärgert Sie sind? Ihm eine knallen, damit Sie als hysterische Ziege abgestempelt werden? Außerdem stehen solche Fieslinge drauf, wenn man sie schlägt. Oder lieber gar nichts tun? Damit Sie jeder Kerl auf dem Gelände ungestraft beleidigen kann?»
«Eine offizielle Beschwerde?»
«Damit Sie beweisen, dass eine Frau mit jedem Problem zu ihrem männlichen Vorgesetzten rennt?»
«Und, was haben Sie stattdessen getan?»
«Ich habe ihn in unser Werk in Kansas versetzen lassen. An den Arsch der Welt, mitten im Januar. Seine Frau tat mir leid, aber schließlich hat sie ihn geheiratet. Die Sache sprach sich rum, und seitdem heiße ich ‹Mr. Li›. Eine richtige Frau hätte den armen Kerl nicht so
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