Der Wolkenatlas (German Edition)
vom «The Girl from Ipanema»-Gebimmel eines Eiswagens aufgescheucht und stoben davon wie Vampirinnen beim ersten Strahl der Morgensonne.
«Du hast sie nicht angezeigt? Hornochse!», rief Madame X am nächsten Morgen, während sie Süßstoff über ihre Frühstückskleie streute. «Ruf die Polizei an, zum Kuckuck. Worauf wartest du noch? Die Fährte wird kalt.» Leider Gottes hatte ich die Wahrheit etwas ausgeschmückt und ihr erzählt, ich sei von fünf Rüpeln mit ausrasierten Hakenkreuzen auf den Schädeln überfallen worden. Wie sollte ich der Polizei nun erklären, dass es drei vorpubertäre Eisschleckerinnen gewesen waren, die mich so mühelos besiegt hatten? Die Jungs in Blau wären doch an ihren Schokoriegeln erstickt. Nein, dieser Überfall würde nicht in die eifrig geschönten Verbrechensstatistiken unseres Landes eingehen. Wäre die entwendete Armbanduhr nicht eine Liebesgabe aus unbeschwerteren Zeiten unserer inzwischen arktisch temperierten Ehe gewesen, ich hätte den Vorfall ganz verschwiegen.
Wo war ich gleich?
Sonderbar, wie Leuten meines Alters ständig die falschen Geschichten in den Sinn kommen.
Nein, nicht sonderbar, verflucht beängstigend ist das. Eigentlich wollte ich meine Erzählung mit Dermot Hoggins beginnen. So ist das, wenn man seine Erinnerungen mit der Hand schreibt. Was einmal auf dem Papier steht, lässt sich nicht mehr ändern, zumindest nicht, ohne noch mehr zu vermurksen.
Damit eins klar ist, ich war Dermot «Duster» Hoggins’ Verleger , nicht sein Psychiater oder sein verfluchter Astrologe, wie konnte ich also ahnen, was Sir Felix Finch an jenem berüchtigten Abend bevorstand? Sir Felix Finch, beflissener Diener der Kultur und El Supremo der Trafalgar Review of Books , wie überstrahlte sein Stern den Medienhimmel, wie präsent ist er noch heute, zwölf Monate später. Sensationspressesüchtige lasen die ganze Geschichte auf den Titelseiten, den Freunden seriöser Blätter fiel das Knuspermüsli vom Löffel, als auf Radio 4 berichtet wurde, wer warum gefallen war. Die Geier und Gimpel, die «Kolumnisten», zwitscherten dem untergegangenen König der Künste eine Ruhmeshymne nach der anderen.
Ich dagegen habe meine Meinung bis jetzt würdevoll für mich behalten. Ich muss den viel beschäftigten Leser allerdings warnen, denn der Verdauungsschnaps des Felix Finch ist erst der Aperitif zu meiner eigenen gramerfüllten Odyssee. Das grausige Martyrium des Timothy Cavendish, wenn Sie so wollen. Na, wenn das kein flotter Titel ist.
Es geschah bei der Lemon-Prize-Verleihung in Jake’s Starlight Bar in Bayswater, die, mit einem neuen Dachgarten als i-Tüpfelchen, in großem Stil ihre Wiedereröffnung feierte. Die ganze verfluchte Buchbranchennahrungskette hatte sich des Abends in die Lüfte geschwungen und bei Jake niedergelassen.
Geplagte Autoren, Star-Köche, Schlipsträger, ziegenbärtige Käufer, unterernährte Buchhändler, die ganze Meute der Schmierfinken und Fotografen, für die «Verschwinden Sie!» nichts als «Aber ja doch, mit Vergnügen!» heißt. Lassen Sie mich das heimtückische kleine Gerücht aus der Welt räumen, Dermots Einladung sei mein Werk gewesen und, hört, hört, die ganze Tragödie nur ein Publicitygag, weil Timothy Cavendish nämlich genau gewusst habe, wie sehr sein Autor auf Rache im Rampenlicht gierte. Albernes Gewäsch, gewachsen auf dem Mist neidischer Rivalen! Niemand hat je zugegeben, Dermot Hoggins eine Einladung geschickt zu haben, und dass betreffende Dame ausgerechnet jetzt die Hand hebt, ist wohl eher unwahrscheinlich.
Sei’s drum, der Gewinner wurde verkündet, und wir alle wissen, wer die fünfzig Mille Preisgeld einstrich. Ich besoff mich. Guy der Gute machte mich mit einem Cocktail namens «Bodenkontrolle an Major Tom» bekannt. Der Pfeil der Zeit wurde zum Bumerang, und ich verlor die Übersicht über meine Majors. Ein Jazz-Sextett spielte eine Rumba. Ich ging zum Luftschnappen auf den Balkon und beobachtete das Spektakel von draußen. Das literarische London beim Spiel erinnerte mich an Gibbons Worte über das Zeitalter der Antonine. Ein Gewölk von Kritikern, Kompilatoren und Kommentatoren verfinsterte das Antlitz der Wissenschaft, und dem Verfall des Genies folgte bald die Verderbtheit des Geschmacks.
Dermot spürte mich auf; das tun Ärgernisse unausweichlich. Ich beteuere es noch einmal, es hätte mich weniger überrascht, Pius XIII. in die Arme zu laufen. Seine päpstliche Unfehlbarkeit wäre zudem bedeutend
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