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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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wenn mein Gedächtnis mich nicht täuscht?»
    «Sie haben ein ausgezeichnetes Gedächtnis, Sir.»
    «Das will ich meinen. Wie sieht’s mit Nachwuchs aus?»
    «Meine Frau ist im vierten Monat, Mr.   Smoke.»
    «Ich habe einen Rat für Sie, Richter. Wie man es in der Sicherheitsbranche zu etwas bringt. Möchten Sie ihn hören, mein Junge?»
    «Selbstverständlich, Sir.»
    «Herumsitzen und die Augen offen halten, das kann der dümmste Köter. Aber zu wissen, wann man lieber wegsieht, das erfordert Grips. Leuchtet Ihnen das ein, Richter?»
    «Das leuchtet mir absolut ein, Mr.   Smoke.»
    «Dann ist die Zukunft Ihrer jungen Familie gesichert, mein Junge.»
    Smoke setzt den Wagen zurück neben das Wachhäuschen und rutscht ganz tief in den Sitz hinein. Sechzig Sekunden später eiert ein ächzender VW Käfer um die Landspitze. Luisa hält an, kurbelt die Scheibe runter, Richter taucht auf, und Smoke schnappt die Worte «dringende Familienangelegenheit» auf. Richter wünscht ihr gute Fahrt, und die Schranke geht hoch.
    Bill Smoke schaltet in den ersten, dann in den zweiten Gang. Laute Fahrgeräusche auf der nicht schallgedämpften Brücke. Dritter Gang, vierter, Vollgas. Die Rücklichter des klapprigen VW leuchten vor ihm auf, noch fünfzig Meter, dreißig Meter, zehn … Smoke fährt ohne Licht. Er schert auf die freie Gegenfahrbahn aus, schaltet in den fünften Gang und schließt zum VW auf. Er lächelt. Sie hält mich für Joe Napier. Er reißt scharf das Steuer herum, Metall schrammt kreischend an Metall, der Käfer wird zwischen Smokes Chevy und dem Brückengeländer eingeklemmt, das Geländer bricht und der Käfer stürzt taumelnd ins Nichts.
    Smoke tritt auf die Bremse. Er steigt aus. Die kühle Luft riecht nach verbranntem Gummi. Zwanzig, fünfundzwanzig Meter unter ihm verschwindet die Frontstoßstange des Käfers inmitten kleiner schaumiger Wellen im Schlund des Meeres. Wenn sie sich nicht das Rückgrat gebrochen hat, ist sie in drei Minuten ersoffen. Bill Smoke inspiziert den Schaden an seiner Karosserie und verspürt Ernüchterung. Bei einem anonymen Mord , befindet er, fehlt der erregende Kitzel menschlicher Nähe.
    Die amerikanische Sonne zieht strahlend am Himmel auf und verkündet den Anbruch eines neuen Tages.

Das grausige Martyrium des Timothy Cavendish
    An einem schönen Sommerabend vor vier, fünf, Himmel nein, vor sechs Jahren spazierte ich, mit Gott und der Welt versöhnt, eine Allee aus alten Kastanien und Falschem Jasmin in Greenwich hinunter. Die klassizistischen Häuser dieser Gegend zählen zu den teuersten Immobilien ganz Londons, doch sollten Sie, lieber Leser, jemals eines erben, ziehen Sie nicht dort ein, verkaufen Sie es. In diesen Häusern lauern finstere Mächte, die ihre Bewohner in Spinner verwandeln. Eines dieser Opfer, ein ehemaliger Präsident der rhodesischen Polizei, hatte mir an besagtem Abend einen Scheck so fett wie er selbst überreicht, damit ich seine Autobiografie redigierte und drucken ließ. Meine versöhnliche Stimmung verdankte ich zum einen diesem Scheck, zum anderen einem 1983er Chablis vom Weingut Duruzoi, ein Zaubertrank, der die zahllosen Tragödien unseres Lebens in bloße Missverständnisse auflöst.
    Drei Teeniemädchen, aufgemacht wie Callgirl-Barbies, kamen wie ein Schleppnetz auf mich zu. Ich trat vom Bürgersteig, um einen Zusammenstoß zu vermeiden. Doch just, als wir auf gleicher Höhe waren, rissen die drei die Verpackung von ihren widerlichen Eis-am-Stiel und ließen sie achtlos fallen. Mein Wohlbefinden war mit einem Schlag dahin. Ich meine, gleich daneben stand ein Abfallkorb! Tim Cavendish, ganz aufgebrachter Bürger, rief den Übeltäterinnen zu: «Das hebt ihr aber schön wieder auf!»
    Ein verächtliches «Und wie willste uns dazu zwingen?» prallte an meinem Rücken ab.
    Verfluchte Äffinnenbande! «Ich habe nicht die Absicht, euch zu zwingen», bemerkte ich im Weitergehen, «ich sagte nur, ihr müsst …»
    Meine Knie knickten ein, der Asphalt riss mir die Wange auf, und die Erschütterung weckte die Erinnerung an einen Dreiradunfall, bis der Schmerz alles auslöschte. Ein spitzes Knie zermanschte mein Gesicht zu Kompost. Ich schmeckte Blut. Mein über sechzig Jahre altes Handgelenk wurde um schmerzhafte neunzig Grad gebogen und der Verschluss meiner Ingersoll Solar geöffnet. Ich erinnere mich an ein Potpourri aus alt- und neumodischen Vulgärausdrücken, doch bevor die Räuberinnen dazu kamen, sich meine Brieftasche zu schnappen, wurden sie

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