Der Wolkenatlas (German Edition)
den neugierigen Leser auf Seite 244 von Faustfutter , erhältlich beim Buchhändler Ihres Vertrauens. Nicht auf vollen Magen.
Vor meinem Büro am Haymarket schoben sich Taxis durch den Stop-and-go-Verkehr. In meinen heiligen Hallen klimperten Mrs. Lathams Nofretete-Ohrringe (ein Geschenk von mir zu ihrem Zehnjährigen bei Cavendish Publishing; ich fand sie in der Schnäppchenkiste im Shop des Britischen Museums), während sie energisch den Kopf schüttelte. «Und ich sage Ihnen, Mr. Cavendish, dass ich bis heute Nachmittag um drei unmöglich fünfzigtausend Pfund auftreiben kann. Nicht einmal fünftausend Pfund kann ich auftreiben. Jeder Penny von Faustfutter ist von alten Schulden aufgefressen worden.»
«Schuldet uns denn niemand Geld?»
«Bin ich mit den Rechnungen etwa nicht stets auf dem Laufenden, Mr. Cavendish?»
Hoffnungslosigkeit macht mich zum Überredungskünstler. «Wir leben im Zeitalter des Sofortkredits!»
«Wir leben im Zeitalter des Kredit limits , Mr. Cavendish.»
Ich zog mich ins Büro zurück, schenkte mir einen Whisky ein, spülte die Tabletten gegen das Herzklabastern runter und zeichnete auf meinem alten Globus Captain Cooks letzte Seereise nach. Mrs. Latham brachte die Post herein und ging wortlos wieder hinaus. Rechnungen, Werbemüll, Moralattacken diverser Wohltätigkeitsorganisationen sowie ein Paket mit der Aufschrift «z. H. des visionären Verlegers von ‹Faustfutter›»; darin lag ein Manuskript mit dem Titel Halbwertszeiten – mieser Titel für einen Roman – und dem Untertitel Luisa Reys erster Fall . Mieser, am miesesten. Die Autorin, eine Dame mit dem zweifelhaften Namen Hilary V. Hush, begann ihr Anschreiben mit folgenden Worten: «Als Neunjährige reiste meine Mutter mit mir nach Lourdes, um dafür zu beten, dass ich vom Bettnässen geheilt werde. Stellen Sie sich vor, wie überrascht ich war, als mir in jener Nacht nicht die heilige Bernadette, sondern Alain-Fournier erschien.»
Haschmich ahoi. Ich legte den Brief unter «Eilt» ab und setzte mich zu einer Partie Minesweeper an meinen nagelneuen Super-Gigabyte-Computer. Nachdem ich zweimal in die Luft geflogen war, rief ich bei Sotheby’s an, um Charles Dickens’ originalechten Originalschreibtisch für ein Mindestgebot von sechzigtausend Pfund zur Versteigerung anzubieten. Ein liebenswürdiger Experte namens Kirpal Singh erklärte mir, der Schriftstellerschreibtisch befinde sich bereits in verbrieftem Besitz des Dickens-Museums, und fügte teilnahmsvoll hinzu, ich sei hoffentlich nicht allzu arg übers Ohr gehauen worden. (Zugegeben, ich verliere die Übersicht über meine Flunkereien.) Anschließend rief ich Elliot McCluskie an und erkundigte mich nach seinen wunderbaren Kindern. «Alles bestens, danke sehr.» Er erkundigte sich nach meinen wunderbaren Geschäften. Ich bat ihn um ein Darlehen in Höhe von achtzigtausend Pfund. Er gab ein nachdenkliches «Aha …» von sich. Ich ging runter auf sechzig. Elliot wies mich darauf hin, dass ich erst die letzten zwölf Monatsraten des laufenden Kredits abbezahlen müsse, bevor wir eine Erweiterung der Kreditlinie ernsthaft in Erwägung ziehen könnten. Ach, wie vermisse ich die Zeiten, als sie noch lachten wie die Hyänen, sagten, man solle sich zum Teufel scheren, und den Hörer aufknallten. Ich zeichnete auf dem Globus Magellans Seereise nach und sehnte mich in ein Jahrhundert zurück, wo ein Neuanfang nichts weiter hieß, als in Deptford den nächstbesten Klipper zu besteigen. Da mein Stolz ohnehin schwer angeschlagen war, rief ich Madame X an. Sie nahm gerade ihr vormittägliches Bad. Ich erklärte ihr den Ernst der Lage. Sie lachte wie eine Hyäne, sagte, ich solle mich zum Teufel scheren, und knallte den Hörer auf. Ich drehte meinen Globus. Herum und herum und herum.
Als ich aus meinem Büro trat, nahm Mrs. Latham mich ins Visier wie der Falke das Kaninchen. «Nein, Mr. Cavendish, kein Kredithai. Das ist es einfach nicht wert.»
«Keine Bange, Mrs. Latham, ich will nur den einzigen Menschen auf dieser Welt besuchen, der an mich glaubt, in guten wie in schlechten Zeiten.» Im Fahrstuhl erinnerte ich mein Spiegelbild ans Sprichwort «Blut ist dicker als Wasser» und bohrte mir den Taschenschirm in die linke Handfläche.
«Bei den Keimdrüsen des Satans, bitte nicht du! Verschwinde und lass uns in Frieden.» Mein Bruder starrte finster über seinen Swimmingpool hinweg, als ich von der Terrasse trat. Obwohl Denholme meines
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