Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
Vom Netzwerk:
geschröpft). Die eingeschweißten Urexemplare von Faustfutter verschwanden innerhalb von sechsunddreißig Stunden, und Frank Sprat druckte beinahe monatlich nach. Nichts in meinen vier Jahrzehnten im Verlagswesen hatte uns auf einen solchen Erfolg eingestellt. Die Betriebsausgaben waren immer durch Autorenspenden gedeckt worden – nie durch reale Umsätze! Es war fast schon unmoralisch. Dennoch hatte ich auf einmal einen Bestseller im Programm, wie es ihn nur alle zehn Jahre einmal gibt. Oft wurde ich gefragt: «Tim, wie erklären Sie sich diesen phänomenalen Erfolg?»
    Faustfutter war tatsächlich eine gut geschriebene, pralle, fiktive Lebensgeschichte. Kulturbesessene diskutierten, anfangs im Spätprogramm, dann im Frühstücksfernsehen, über den soziopolitischen Subtext des Buches. Neonazis kauften es wegen der minuziösen Gewaltbeschreibungen. Hausfrauen aus Worcestershire kauften es, weil es irrsinnig unterhaltsam war. Homosexuelle kauften es aus Stammesloyalität. Innerhalb von vier Monaten setzten wir sage und schreibe neunzigtausend Exemplare ab, und ich rede immer noch vom Hardcover! Die Verfilmung müsste in diesem Augenblick im Gange sein. Auf dem Frankfurter Buch-Love-in wurde ich von Menschen gefeiert, die vorher nicht einmal stehen geblieben wären, um mich von ihren Schuhsohlen zu kratzen. Aus dem abscheulichen Etikett «Pseudoverleger» wurde «Kreativfinanzier». Die Übersetzungsrechte gingen weg wie die Länder in der letzten Runde von Risiko . Die amerikanischen Verlage, glory, glory, Hallelujah , stürzten sich begeistert auf die Geschichte vom geknechteten Keltensohn, der den englischen Adligen seiner wohlverdienten Strafe zuführt, und eine transatlantische Versteigerung katapultierte den Vorschuss in Schwindel erregende Höhen. Ich, jawohl ich, besaß an dieser von heftigem Dünnpfiff geplagten Platingans die Exklusivrechte! Das Geld überflutete meine gähnend leeren Konten wie die Nordsee einen holländischen Kanal. Mein «persönlicher Bankberater», ein Lackaffe namens Elliot McCluskie, schickte mir eine Weihnachtskarte mit einem Foto seiner weißblonden Hitlerjugendbrut. Die Primaten am Eingang des Groucho Clubs begrüßten mich nun mit «Angenehmen Abend, Mr.   Cavendish», anstatt wie früher mit «He, Zutritt nur in Begleitung von Mitgliedern!». Als ich bekannt gab, ich würde die Taschenbuchausgabe selbst in die Hand nehmen, porträtierten die Literaturseiten der Sonntagszeitungen Cavendish Publishing als weiß glühenden, dynamischen Akteur inmitten eines Haufens altersschwacher Gasriesen. Ich schaffte es sogar in die Financial Times .
    War es da verwunderlich, dass Mrs.   Latham und ich im Bereich der Buchführung (ein kleines bisschen) überfordert waren?
     
    Erfolg vergiftet die Grünschnäbel im Handumdrehen. Ich ließ mir Visitenkarten drucken: Cavendish-Redux, Verlag für Spitzenliteratur. Na, dachte ich, warum statt eines einzigen nicht gleich viele Titel verkaufen? Warum nicht der seriöse Verleger werden, als den die Welt dich preist?
    Ach weh! Die schnuckeligen Kärtchen waren das rote Tuch, mit dem ich den Stier des Schicksals reizte. Sobald sich das Gerücht verbreitete, Tim Cavendish sei flüssig, krochen meine säbelzahnigen Gläubiger aus ihren Erdlöchern und stürmten den Verlag. Wie immer überließ ich die gnostische Algebra, wer wann wie viel Geld bekam, der unbezahlbaren Mrs.   Latham. Und so geschah es, dass ich geistig und finanziell unzulänglich gewappnet war, als ich fast ein Jahr nach der Felix-Finch-Nacht spätabendlichen Besuch bekam. Ich gebe zu, seit Madame X mich verlassen hat (so schmerzhaft es auch ist, ein Zahnarzt machte mich zum Hahnrei), herrscht in meinem Haushalt in Putney die reine Anarchie (also schön, der Dreckskerl war Deutscher), sodass mein weißer Thron längst zu meinem Quasibürostuhl avanciert ist. Unter der Rüschenverkleidung verbirgt sich anstelle der Klorollen ein anständiger Cognac, und die Tür steht immer offen, damit ich das Radio in der Küche höre.
    An besagtem Abend hatte ich wegen der vielen Manuskripte (ungenießbar wie grüne Tomaten), die bei Cavendish-Redux, meinem neuen Siegerrennstall, eingegangen waren, meine ständige Toilettenlektüre, Verfall und Untergang des Römischen Imperiums, beiseite gelegt. Es muss so gegen elf Uhr gewesen sein, als ich Geräusche an der Haustür hörte. Kleine Halloween-Skinheads auf «Kohle oder Keile»-Tour?
    Ein Klingelstreich? Der Wind?
    Im nächsten Moment flog auch

Weitere Kostenlose Bücher