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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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verfasste er im Geiste schon die nächste Folge von «Finch und die Stadt», seine Kolumne in der Sunday Times . Für ihn war der strahlende Dermot die Aufrichtigkeit in Person. «Was für ein Preis mag das wohl sein?», rätselte er mit süffisantem Grinsen, als der Applaus verebbte. «Ein signiertes, noch nicht eingestampftes Exemplar von Faustfutter ? Allzu viele können nicht mehr übrig sein!» Finchs Sippschaft feuerte ihren Volkskommissar unter johlendem Gelächter an. «Oder gewinne ich einen Freiflug in ein südamerikanisches Land mit undichten Auslieferungsverträgen?»
    «Genau, Freundchen», sagte Dermot augenzwinkernd, «Freiflug trifft den Nagel auf den Kopf.»
    Mein Autor packte den Kritiker am Revers, machte eine halbe Rolle rückwärts, versenkte seine Füße in Finchs fülligen Leib und katapultierte den im wahren Leben überraschend kleinen Medienmann wie ein Judoka in den nächtlichen Himmel. Er flog in hohem Bogen über die Stiefmütterchen, die das Terrassengeländer säumten.
    Finchs Schrei – sein Leben – endete auf zerbeultem Metall, zwölf Stockwerke tiefer.
    Ein Drink landete auf dem Teppich.
    Dermot «Duster» Hoggins klopfte sich das Jackett ab, beugte sich über die Brüstung und schrie: «UND WER IST JETZT IN EINEM AN PLATTER BELANGLOSIGKEIT KAUM ZU ÜBERBIETENDEN ENDE VERPUFFT?»
    Die verblüffte Menge teilte sich, als der Mörder zum Tisch mit den Häppchen marschierte. Mehrere Augenzeugen erinnerten sich später an eine dunkle Aureole. Er entschied sich für einen appetitlich garnierten belgischen Kräcker mit Biskaya-Anchovis, Petersilie und Sesamöl.
    Die Menge kam langsam wieder zur Besinnung. Würgelaute, «O mein Gott»-Rufe, wilder Ansturm auf das Treppenhaus. Ein grässlicher Radau! Was ich empfand? Ehrlich? Entsetzen. Natürlich. Bestürzung? Keine Frage. Unglaube? Verständlicherweise. Furcht? Eigentlich nicht.
    Ich will nicht verhehlen, dass ich in diesem tragischen Ereignis einen Silberstreifen am Horizont erblickte. In meinem Büro am Haymarket lagen fünfundneunzig eingeschweißte Exemplare von Dermot Hoggins’ Faustfutter – leidenschaftliche Lebensgeschichte des in Kürze berühmtesten Mörders Großbritanniens. Frank Sprat – mein getreuer Drucker in Sevenoaks, dem ich so viel Geld schuldete, dass ich den armen Kerl in der Hand hatte – besaß noch die Platten und war allzeit produktionsbereit.
    Hardcover, meine Damen und Herren.
    Vierzehn Pfund neunundneunzig das Stück.
    Ein Honiglecken!
     
    Als erfahrener Lektor lehne ich Rückblenden, vorausgreifende Andeutungen und raffinierte Kunstgriffe ab, sie gehören wie Examensarbeiten über Postmoderne und Chaostheorie in die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Dennoch werde ich mich nicht dafür entschuldigen, dass ich die Erzählung mit meiner persönlichen Version der schockierenden Affäre fortsetze, denn sie legte den Grundstein für meine Höllenfahrt nach Hull, oder besser gesagt, ins Hinterland von Hull, wo mein grausiges Martyrium zu seiner unglückseligen Entfaltung kommen sollte. Mein Schicksal nahm ebenjene wunderbare Wendung, die ich nach Felix Finchs furiosem Finale vorausgesehen hatte. Faustfutter schnellte auf den Flügeln der kostenlosen Publicity in die Bestsellerlisten und verweilte dort, bis der arme Dermot zu fünfzehn von seinen besten Jahren in Wormwood Scrubs verurteilt wurde. Der Prozess gelangte allabendlich in die Hauptnachrichten. Im Tode wandelte sich Sir Felix vom selbstgefälligen Wichtigtuer mit stalinistischem Zugriff auf staatliche Kulturfördermittel zu, oje, Großbritanniens meistgeliebtem Kunstguru seit seinem Vorgänger.
    Auf der Treppe des Old Bailey erklärte seine Witwe den Reportern, fünfzehn Jahre seien «unverschämt milde», und schon am nächsten Tag wurde eine Kampagne mit dem Titel «Duster Hoggins, in der Hölle sollst du verfaulen!» losgetreten. Dermots Familie ging in Talkshows zum Gegenangriff über, Finchs verletzende Rezension wurde ausgiebig erörtert, BBC2 strahlte eine Sondersendung aus, in der die Lesbe, die mich interviewt hatte, meine geistreichen Bemerkungen völlig aus dem Zusammenhang gerissen wiedergab. Aber wen interessierte das schon? Der Geldtopf sprudelte – nein, er kochte über und setzte die verfluchte Küche unter Wasser. Cavendish Publishing, sprich Mrs.   Latham und ich, wussten überhaupt nicht, wie uns geschah. Wir mussten zwei ihrer Nichten einstellen (in Teilzeit selbstverständlich, sonst hätte mich die Sozialversicherung

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