Der Wolkenatlas (German Edition)
Trichter aus Zähnen zu Hackfleisch zerkleinert werden, der betäubenden Vision erliegen, fernab aller Gefahren im blauen Pazifik zu treiben. Ich, Timothy Cavendish, fühlte mich wie so ein Schwimmer, als ich London davonziehen sah, ja, dich, du Pendant eines durchtriebenen, Toupet tragenden Quizmasters, dich, du Hort der Gelegenheitsarbeit mit deinen Somali-Mietskasernen, Kingdom-Brunel-Viadukten, deinen Schichten aus bombenverrußten Backsteinen und vermoderten Knochen der Doktoren Dee, Crippen et al., deinen Bürotreibhäusern, in denen die Knospen der Jugend zu knorrigen Kakteen verdorren wie mein knickriger Bruder.
Essex hob sein hässliches Haupt. Damals, als ich, Sohn eines ehrgeizigen Arbeitstiers bei der Stadtverwaltung, mit einem Stipendium das Gymnasium besuchte, stand diese Grafschaft für Freiheit, Erfolg und Cambridge. Und heute? Einkaufszentren und Wohnsiedlungen erobern schleichend unser uraltes Land. Ein Nordseewind schnappte sich ein paar Bilderbuchwolken und verzog sich Richtung Midlands. Endlich begann das wahre ländliche England. Meine Mutter hatte hier draußen eine Cousine, deren Familie ein großes Haus besaß, ich glaube, sie zogen nach Winnipeg, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Dort! Dort drüben, im Schatten des Baumarkts, stand einst eine Reihe Walnussbäume, wo ich und Pip Oakes – ein Kinderfreund, der mit dreizehn unter den Rädern eines Tanklastzuges starb – eines Sommers ein Kanu einölten, mit dem wir dann auf der Say paddelten. Stichlinge in Einweckgläsern. Dort, genau dort, hinter der Biegung machten wir ein Feuer und kochten Bohnen und Folienkartoffeln! Komm zurück, ach, komm doch zurück! Ist ein kurzer Blick denn alles, was mir vergönnt ist? Heckenlose, trostlose Felder. Essex ist jetzt Winnipeg. Abgebrannte Stoppelfelder, und die Luft schmeckte nach knusprigen Speckstullen. Meine Gedanken flogen mit anderen Grillen davon, und wir waren schon hinter Saffron Walden, als der Zug mit einem Ruck zum Stehen kam. «Ähm …», kam es durch den Lautsprecher. «John, ist das Ding an? John, welchen Knopf muss ich drücken?» Husten. «Sehr verehrte Fahrgäste, wegen eines …. fehlenden Zugführers werden wir im nächsten Bahnhof einen außerplanmäßigen Halt einlegen. SouthNet Trains bittet Sie um Ihr Verständnis. Wir werden unsere Fahrt fortsetzen, sobald sich ein geeigneter Zugführer gefunden hat. SouthNet Trains versichert Ihnen, dass wir alles tun werden …», im Hintergrund war deutlich ein Kichern zu vernehmen, «… um unseren gewohnt reibungslosen Betrieb so schnell wie möglich wiederaufzunehmen.» Der Zorn der Reisenden sprang von Waggon zu Waggon, doch heutzutage werden die Verbrechen nicht mehr von leicht zu fassenden Kriminellen verübt, sondern von Schreibtischtätern an den Konzernspitzen, die, sicher abgeschirmt gegen den Pöbel, in postmodernen Zentralen aus Glas und Edelstahl sitzen. Der halbe Pöbel besitzt sowieso Aktien an allem, was er am liebsten in Schutt und Asche legen würde.
Da saßen wir nun. Ich wünschte mir, ich hätte etwas zu lesen eingepackt. Immerhin hatte ich einen Sitzplatz, und den hätte ich nicht einmal für Helen Keller geräumt. Der Abend war zitronengelb mit Blau. Die Schatten neben den Gleisen wurden immer gigantischer. Die Pendler benachrichtigten über Handy ihre Familien. Ich überlegte, woher der zweifelhafte australische Friedensrichter wusste, was Menschen im Maul eines Hais durch den Kopf geht. Glückliche Schnellzüge mit nicht fehlenden Zugführern schossen vorbei. Ich musste aufs Klo, aber schon der Gedanke verursachte mir Übelkeit. Also griff ich in meine Aktentasche, doch statt der Tüte mit den Sahnebonbons zog ich Halbwertszeiten – Luisa Reys erster Fall heraus. Ich blätterte durch die ersten paar Seiten. Es wäre dem Buch besser bekommen, wenn Hilary V. Hush nicht so kalkuliert einen auf Kunst gemacht hätte. Beim Verfassen der kurzen Kapitelchen hatte sie zweifelsohne mit einem Auge in Richtung Hollywood geschielt. Aus den Lautsprechern quietschte es. «Achtung, eine Durchsage. Da wir keinen geeigneten Zugführer finden können, fährt dieser Zug nur bis Little Chesterford. Dort wird ein Ersatzzug nach Cambridge eingesetzt. SouthNet Trains bittet um Ihr Verständnis. Wir empfehlen Ihnen aber, die Weiterfahrt nach Möglichkeit auf anderem Wege fortzusetzen, da wir Little Chesterford [welch süße Erinnerungen dieser Name in mir wachrief!] nicht … in absehbarer Zeit erreichen werden. Weitere
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