Der Wolkenatlas (German Edition)
Schlitz, Gesicht nach oben, Gesicht nach unten, richtig rum, verkehrt herum, aber der Automat spuckte ihn hartnäckig wieder aus. Also stellte ich mich in die Schlange vor den menschlichen Fahrkartenverkäufern. Einunddreißig Leute warteten vor mir, jawohl, ich habe jeden Einzelnen gezählt. Die Kartenverkäufer besetzten und verließen ihre Schalter nach Lust und Laune. Auf einem Bildschirm drängte mich eine Endloswerbung zum Erwerb eines Treppenlifts. Schließlich, endlich, war ich an der Reihe: «Hallo, ich möchte eine Fahrkarte nach Hull.»
Die Frau am Schalter spielte mit ihren klobigen Ethno-Ringen. «Wann?»
«So bald wie möglich.»
«Also heute?»
«‹So bald wie möglich› bedeutet in der Regel ‹heute›, ja.»
«Bei mir gibt’s keine Tickets für heute. Die kriegen Sie da drüben. Hier ist der Vorverkaufsschalter.»
«Aber die rot blinkende Anzeige hat mich an diesen Schalter verwiesen.»
«Kann nicht sein. Und jetzt treten Sie zur Seite. Sie halten die Schlange auf.»
«Nein, die verfluchte Anzeige hat mich an diesen Schalter verwiesen! Ich habe zwanzig Minuten angestanden!»
Zum ersten Mal zeigte sie eine Spur Interesse. «Erwarten Sie etwa, dass ich extra für Sie die Vorschriften ändere?»
Der Zorn schlug Funken in Timothy Cavendish wie eine Gabel in der Mikrowelle. «Ich erwarte, dass Sie sich eines lösungsorientierten Denkens befleißigen und mir eine Fahrkarte nach Hull verkaufen!»
«Ich verbitte mir diesen Ton.»
«Verflucht, ich bin hier der Kunde! Ich verbitte mir diesen Ton! Ich will auf der Stelle mit Ihrem Vorgesetzten sprechen!»
«Ich bin meine eigene Vorgesetzte.»
Ich knurrte einen Fluch aus einer alten isländischen Saga und stellte mich wieder vorne an.
«Ey!», schrie ein Punkrocker mit Nieten im Schädel. «Hier gibt’s ’ne Schlange, du Penner!»
Niemals entschuldigen, rät Lloyd George, sondern das Gesagte wiederholen, nur schroffer. «Ich weiß, dass es hier ’ne Schlange gibt, du Penner! Ich habe darin angestanden, und ich werde es bestimmt nicht noch einmal tun, nur weil Nina Simone da vorne mir keine Fahrkarte verkaufen will!»
Ein dunkelhäutiger Yeti mit Uniform und Ansteckkrawatte stürzte herbei. «Was gibt’s?»
«Der alte Mann hier bildet sich ein, sein künstlicher Darmausgang berechtige ihn dazu, sich vorzudrängeln», sagte der Punk, « und rassistische Bemerkungen über die Dame afro-karibischer Herkunft am Vorverkaufsschalter zu machen.»
Ich traute meinen Ohren nicht.
«Hörn Sie mal, mein Freund», wandte sich der Yeti in dem herablassenden Ton an mich, der sonst für Alte und Behinderte reserviert ist, «in diesem Land gibt es Schlangen, damit alles schön geregelt zugeht, und wenn Ihnen das nicht passt, gehen Sie am besten dorthin zurück, wo Sie herkommen, klar?»
«Sehe ich vielleicht aus wie ein Ägypter? Hä? Ich weiß , dass es eine Schlange gibt! Woher? Weil ich in dieser Schlange bereits Schlange gestanden habe, also …»
«Der Herr hier behauptet das Gegenteil.»
« Der? Nennen Sie den auch noch ‹Herr›, wenn er an die Tür Ihrer Sozialwohnung Asylschmarotzer schmiert?»
Seine Augen quollen hervor, ungelogen. «Entweder Sie reihen sich wie ein zivilisiertes Mitglied der Gesellschaft in die Schlange ein, oder die Bahnpolizei wird Sie aus dem Gebäude werfen. Soll mir beides recht sein. Vordrängeln ist mir nicht recht.»
«Aber wenn ich mich wieder hinten anstelle, verpasse ich meinen Anschluss!»
«Dumm», sagte er überdeutlich, «gelaufen!»
Ich wandte mich an die Menschen hinter dem Sid-Rotten-Doppelgänger. Vielleicht hatten sie mich in der Schlange bemerkt, vielleicht auch nicht, jedenfalls guckten alle woandershin. England ist vor die Hunde gegangen, ach, die Hunde, die verfluchten Hunde.
Über eine Stunde später verschwand London in Richtung Süden und nahm den Fluch der Gebrüder Hoggins mit sich. Pendler, jene unglückseligen Gestalten, die zweimal täglich auf Großbritanniens altersschwachem Schienennetz an der Lotterie des Todes teilnehmen, drängten sich in dem verdreckten Zug. Über Heathrow kreisten Flugzeuge in der Warteschleife, so dicht wie Mücken über einer Sommerpfütze. Zu viel Materie in dieser verfluchten Stadt.
Dennoch. Ich verspürte dieselbe Euphorie wie zu Beginn jeder Reise und ließ meine Wachsamkeit sausen. In einem Buch, das ich verlegt habe, Die wahren Erinnerungen eines Friedensrichters aus dem Northern Territory, wird behauptet, dass Haiopfer, während sie in dem
Weitere Kostenlose Bücher