Der Wolkenatlas (German Edition)
Informationen entnehmen Sie bitte unserer Website.» Der Zug schlich eine Meile lang durch die Dämmerung. Fledermäuse und vom Wind getragener Abfall flogen an uns vorbei. Wer fuhr eigentlich den Zug, wenn es keinen Fahrer gab?
Ruckeln, Stillstand, Türen auf. Die Kräftigeren strömten aus dem Zug zur Überführung, während ich und ein paar andere vom Präparator ausrangierte Exponate im Schneckentempo hinterherhumpelten. Ich stieg keuchend die Treppe hinauf und hielt inne, um nach Luft zu schnappen. Da stand ich nun. Auf der Fußgängerbrücke des Bahnhofs von Little Chesterford. Großer Gott, unter allen ländlichen Bahnhöfen musste ich ausgerechnet in diesem festsitzen. Der Reitpfad zu Ursulas Haus führte noch an den Getreidefeldern vorbei. Viel mehr erkannte ich nicht wieder. Die heilige Scheune der weltlängsten Knutscherei war jetzt exklusivstes Fitnessstudio von Essex. An jenem Abend, es war die vorlesungsfreie Woche in unserem ersten Trimester gewesen, hatte mich Ursula mit ihrem französischen Wagen, einem Citroën, abgeholt, genau hier … auf diesem dreieckigen Kiesstück. Wie verrucht, hatte der junge Tim damals gedacht, du wirst von einer Frau im Auto abgeholt. Ich kam mir vor wie Tutanchamun IV., den nubische Sklaven auf der königlichen Galeere zum Opfertempel ruderten. Ursula fuhr mich die wenigen hundert Meter zum Dockery House, das ein skandinavischer Konsul zur Zeit des Jugendstils hatte erbauen lassen. Wir hatten das Haus für uns allein, denn Mutter und Vater urlaubten mit Lawrence Durrell in Griechenland, wenn mein Gedächtnis mir die Treue hält. (Gedächtnis und Treue, welch trügerisches Paar.)
Vier Jahrzehnte später beleuchteten die Limousinenscheinwerfer auf dem Bahnhofsparkplatz einen wild gewordenen Schnakenschwarm und einen flüchtigen Verleger, der mit flatterndem Regenmantel über ein Feld stapfte, das wegen der EU-Subventionen brachlag. Man sollte meinen, in einem Land von der Größe Englands könnten sich die Ereignisse eines bescheidenen Menschenlebens problemlos ohne allzu große Überschneidungen verteilen, ich meine, wir leben schließlich nicht in Luxemburg, aber nein, wir kreuzen immer wieder dieselben alten Pfade und fahren sie im Zickzack ab wie Eiskunstläufer. Dockery House stand noch, durch eine Ligusterhecke von den Nachbarn abgeschirmt. Wie feudal mir dieses Haus damals erschienen war, verglichen mit dem farblosen Vorstadtheim meiner Eltern – Eines Tages , schwor ich mir, werde ich in einem solchen Haus leben . Noch ein Versprechen, das ich nicht gehalten habe; wenigstens hatte ich dieses nur mir selbst gegeben.
Ich ging am Rand des Grundstücks entlang und kam über eine Zufahrt an eine Baustelle. Auf einem Schild stand: Hazle Close – großzügige Luxuseigenheime im Herzen Englands . Im Obergeschoss des Dockery brannte Licht. Ich stellte mir ein kinderloses Ehepaar vor, das gemeinsam Radio hörte. Die alte Haustür mit den farbigen Glasscheiben war durch eine einbruchsichere Variante ersetzt worden. Damals kam ich in dieses Haus, um mich meiner schmachvollen Jungfräulichkeit zu entledigen, doch war ich von meiner göttlichen Kleopatra so eingeschüchtert, so nervös, so abgefüllt mit dem Whisky ihres Vaters und vom jugendlichen Säfteüberschuss so schlaff, dass ich, nun ja, gern den Schleier des Vergessens über die Blamage jener Nacht breiten möchte, selbst heute noch, nach vierzig Jahren. Na schön, nach siebenundvierzig Jahren. Dieselbe weißblättrige Eiche kratzte damals an Ursulas Fenster, während ich mich mühte, meinen Mann zu stehen, da ich längst nicht mehr mit Anstand vorgeben konnte, ich müsste erst in Stimmung kommen. Ursula hatte eine Grammophonaufnahme von Rachmaninows Zweitem Klavierkonzert aufgelegt, in ihrem Schlafzimmer, dem Zimmer dort oben, wo jetzt die elektrische Kerze im Fenster leuchtete.
Noch heute zucke ich jedes Mal zusammen, wenn ich Rachmaninow höre.
Die Wahrscheinlichkeit, dass Ursula noch in Dockery House wohnte, lag natürlich bei null. Das Letzte, was ich von ihr gehört hatte, war, dass sie eine PR-Agentur in Los Angeles leitete. Dennoch zwängte ich mich durch die immergrüne Hecke und presste die Nase gegen das dunkle, gardinenlose Fenster, um ins Esszimmer zu spähen. In jener lang vergangenen Herbstnacht hatte Ursula mir Hähnchenbrust mit gekochtem Schinken und einem Klecks zerlaufenem Käse serviert. Genau dort – genau hier. Ich hatte noch den Geschmack im Mund. Ich habe ihn noch jetzt im Mund,
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