Der Wolkenatlas (German Edition)
verhängt im Schlafsaal oder Sanitär kein Schweigegebot, aber Seher Rhee wies uns jedes Mal zurecht, wenn wir ohne Anlass sprachen. Yoona redete, während wir putzten oder wenn an der Nabe nicht viel los war: über Konsumenten, ihr Benehmen, ihre Kleidung; Klatsch über den Seher und die Assistenten. Sie redete sogar im Sanitär und wenn wir unsere Seife tranken. Anfangs fanden wir das lustig, sogar die Ma-Leu-Das.
Dann wurde Yoonas Sprache komplexer; es war schwierig, sie zu verstehen. In der Orientierung lernen wir das Vokabular, das wir für unsere Arbeit benötigen, aber alle später erlernten Worte werden durch die Amneside in der Seife gelöscht. Für uns anderen steckte Yoonas Sprache voller Leerstellen, die wir nicht füllen konnten. Sie klang wie ein Reinblüter.
Was für Abweichungen waren noch zu erkennen?
Yoona~939 imitierte die Konsumenten. Wenn wir unseren Sanitär reinigten, spielte sie den ungehobelten Reinblüter. Sie gähnte, kaute, nieste, rülpste und tat betrunken. Sie summte Papa Songs Psalm in den groteskesten Abweichungen. Es machte ihr Freude, mich zum Lachen zu bringen. Lachen ist anarchische Blasphemie. Tyrannen sind klug beraten, es zu fürchten.
Und wann verstieß Yoona~939 zum ersten Mal öffentlich gegen den Katechismus?
In Monat Acht brach Yoona den Fünften Katechismus. Er verbietet einer Bedienerin, einen Gast unaufgefordert anzusprechen. Eine Mutter und ihr kleiner Sohn bestellten Seetang-Krickel, aber das Förderband war überlastet, und Yoona bat sie um etwas Geduld. Dem Jungen war langweilig und er fragte, warum manche Bedienerinnen genau gleich aussehen. Seine Mutter erklärte ihm, dass wir alle im selben Bruttank gezüchtet werden, so wie die Rettiche im Biologieunterricht. Der Junge wollte wissen, in welchem Bruttank er gezüchtet wurde. ‹Willst du zwei Trinkhalme›, fragte seine Mutter und wurde rot, ‹oder drei?› Der Junge ließ nicht locker: Wer passte denn auf ihre Babys auf, wenn die Duplikanten bei der Arbeit waren? ‹Duplikanten kriegen keine Babys›, antwortete die Mutter, ‹weil sie keine haben wollen.› Der Junge dachte darüber nach und fragte dann, ob Tante Ae-Sook auch ein Duplikant sei.
‹Duplikanten›, sagte die Mutter, ‹kümmern sich nicht um Dollars, Prüfungen, Versicherungen, Krankheiten, Geburtenquoten oder darum, ob sie in die Supraschicht aufsteigen oder in die Subschicht absteigen.› Sie deutete mit einer Handbewegung auf Yoona und mich; ‹diese glücklichen Klone›, sagte sie, ‹brauchen nur zwölf Jahre lang zu arbeiten und dürfen sich dann im Elysium auf Hawaii zur Ruhe setzen. Darum lächeln Bedienerinnen immer.›
‹So ein Quatsch›, sagte Yoona.
Das hat sie zu einer Konsumentin gesagt? Wie hat die Frau darauf reagiert?
Ebenso verblüfft wie Sie, Archivar. Sie erkundigte sich völlig perplex, ob Yoona mit ihr gesprochen hätte.
‹Allerdings.› Yoona war nicht mehr zu halten. ‹Arbeiten Sie zwölf Jahre Ihres Lebens zehn Tage die Woche neunzehn Stunden lang an dieser Nabe; bedienen Sie ausfallende Konsumenten; erniedrigen Sie sich vor einem Seher, seinen Assistenten und dem Logoman; gehorchen Sie unserem Katechismus; und wenn Sie all das getan haben, behaupten Sie nochmal, Duplikanten wären die glücklichste Schicht im Staat. Wir lächeln, weil wir zum Lächeln genomiert wurden. Glücklich nennen Sie uns? Ich würde meinem Leben sofort ein Ende setzen, aber in diesem Gefängnis sind alle Messer aus Plastik.›
Der Junge starrte Yoona~939 mit großen Augen an und fing an zu heulen.
Die Mutter nahm ihren Sohn und floh mit ihm zum Fahrstuhl.
Warum zeigte die Mutter Yoona~939s Abweichung nicht sofort an? Oder hinterher?
Vielleicht stand die Frau zu sehr unter Schock; vielleicht war sie eine heimliche Abolitionistin; vielleicht reichte sie Beschwerde ein, aber die Eintracht ließ die Akte verschwinden, um ihr Xperiment nicht zu gefährden. Ich werde es nie mit Sicherheit erfahren.
Gab es keine anderen Zeugen für den Verstoß?
Ma-Leu-Da~801 war die dritte Schwester, die im Westteil bediente. Sie war eine bösartige Ma-Leu-Da und hasste Yoona~939, weil sie sich mit dem Frischling angefreundet hatte. Sie behielt Yoonas Wutausbruch zwar für sich, aber ich entdeckte einen tückischen Zug in ihrem Gesicht. Ich flehte Yoona an, sich besser vorzusehen, aber meine Freundin hörte nicht auf mich.
Meines Wissens sind Bedienerinnen kaum in der Lage, einen zusammenhängenden Satz aus fünf Worten zu bilden.
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