Der Wolkenatlas (German Edition)
Stock unterm Chongmyo Plaza. Anstelle von Fenstern gab es AdVs an den Wänden. Einziger Ein- und Ausgang war der Fahrstuhl im Osten. Im Norden befand sich das Büro des Sehers, im Westen der Raum seiner Assistenten, im Süden der Schlafsaal der Bedienerinnen. Die Konsumenten-Sanitäre lagen im Nordosten, Südosten, Südwesten und Nordwesten. In der Mitte stand die Nabe. Dort machten die Gäste ihre Bestellungen; wir nahmen sie auf, belasteten ihre Seelen und stellten das Essen auf Tabletts. Aus der Nabe erhebt sich Papa Songs Sockel. Von dort unterhält Er die Gäste mit Seinen Clownerien.
Clownerien?
3D-Zaubertricks. Er trinkt mit dem Finger Guavenbeerensaft, jongliert mit glühenden Burgern, niest Motten. Die Kinder lieben Seine sanftmütige Erscheinung; Seine Bedienerinnen lieben Ihn natürlich auch. Wir hatten weder Mutter noch Vater, nur Papa Song, den Logoman unseres Konzerns.
Wie viele Angestellte hatte das Restaurant?
Circa vierzehn. Ein durchschnittliches Papa-Song-Restaurant beschäftigt einen reinblütigen Seher, zwei bis drei Assistenten und zwölf Bedienerinnen – in der Regel je drei von vier verschiedenen Stammtypen. In meinem Frischlingsjahr waren wir drei Hwa-Soons, drei Yoonas, drei Ma-Leu-Das und drei Sonmis; das genügte, um die Stoßzeiten zu bewältigen. Das Restaurant verfügte über vierhundert Sitzplätze, aber an Neunten Abenden und Zehnten Tagen, wenn die Konsumenten in Scharen aus dem Stadion der Konzernokratie hereinströmten, mussten viele Gäste im Stehen essen.
Kannst du den Tagesablauf einer Bedienerin beschreiben?
Um Vier dreißig ist gelbe Stunde. Stimulin wird freigesetzt, damit wir wach werden. Wir gehen nacheinander zum Sanitär; dann reinigen wir uns mit dem Dampfstrahler. Im Schlafsaal ziehen wir eine frische Uniform an; anschließend stellen wir uns mit unserem Seher und seinen Assistenten um die Nabe herum auf. Papa Song erscheint auf Seinem Sockel zur Morgenandacht, und wir sprechen gemeinsam die Sechs Katechismen. Dann hält unser Logoman Seine Predigt. Eine Minute vor Stunde Fünf nehmen wir unsere Positionen an der Nabe ein.
Der Fahrstuhl bringt die ersten Konsumenten des Tages. Neunzehn Stunden lang sagen wir unseren Willkommensgruß auf, nehmen Bestellungen entgegen, stellen Essen auf Tabletts, verkaufen Getränke, wischen Tische ab, entsorgen Müll, reinigen die Konsumentensanitäre und bitten unsere verehrten Gäste, an der Kasse ihre Seelen zu belasten.
Gibt es keine Pausen?
«Pausen» sind Zeitdiebstahl, Archivar! Wenn um Stunde Null die Ausgangssperre einsetzt, sind natürlich alle Konsumenten fort. Bis Null dreißig putzen wir jeden Quadratzentimeter des Restaurants, dann versammeln wir uns zur Vesper um den Sockel. Danach begeben wir uns geschlossen in den Schlafsaal, wo wir unsere Seife trinken. Gegen Null fünfundvierzig setzt die Wirkung des Soporfix ein. Knapp vier Stunden später gehen die Solare für die nächste Schicht an, und ein neuer Tag beginnt.
Stimmt es, dass Duplikanten genauso träumen wie wir?
Ja, Archivar, das ist korrekt. Früher träumte ich oft von türkisblauen Wellen und Hawaii, dem Leben im Elysium, einem Lob von Papa Song, von meinen Schwestern, den Konsumenten, Seher Rhee und den Assistenten. Albträume haben wir auch; von wütenden Gästen, verstopften Essensausgaben, verlorenen Halsbändern und der Schande, entsternt zu werden.
Wovon hast du hier im Gefängnis geträumt?
Von seltsamen Städten, Verfolgungsjagden durch schwarzweiße Landschaften, meiner bevorstehenden Xekution im Leuchtturm. Bevor der Wärter mich aufweckte und Sie hereinführte, träumte ich von Hae-Joo Im. Sowohl bei Papa Song als auch in diesem Kubus sind meine Träume das einzige unberechenbare Element meiner segmentierten Tage und Nächte. Ich bekomme sie weder zugeteilt, noch werden sie zensiert. Träume sind das Einzige, was jemals wirklich mir gehört hat.
Fragen Bedienerinnen sich niemals, wie die große Welt außerhalb des Doms aussieht, oder glaubtest du tatsächlich, das Restaurant wäre der gesamte Kosmos?
Unsere Vorstellungen vom Kosmos sind weder so primitiv, noch ist unsere Intelligenz so beschränkt. Wir sahen das Draußen in den AdVs; Papa Song zeigte uns Szenen aus dem Elysium, und wir wussten, dass sowohl die Konsumenten als auch das Essen, das wir servierten, irgendwo herkommen mussten.
Aber Seife tötet Neugier; wir stellten uns lieber keine Fragen.
Es ist nicht leicht, sich ein Leben mit … so vielen
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