Der Wolkenatlas (German Edition)
ganz sicher. Eine Bedienerin, die sich wie ein Reinblüter verhält, bedeutet Ärger; Ärger bringt Tadel mit sich; Tadel gelangt bis an die Spitze. Als Seher Rhee Yoona~939s Abweichungen bemerkte, umging er eine Entsternung und holte einen Konzern-Med, der sie reorientieren sollte. Das war einer der typischen taktischen Fehler, die für Seher Rhees glanzlose Karriere bezeichnend sind. Yoona~939 bestand die Untersuchung mit voller Punktzahl, und der Med stellte fest, dass sie genomgemäß funktionierte. Er verschrieb fünf Xtra-Milligramm Amneside für ihre Seife; sonst nichts. Nun konnte Seher Rhee Yoona nicht mehr bestrafen, ohne damit indirekt Kritik an einem ranghöheren Konzern-Med zu üben.
Wann machte Yoona~939 dich zur Komplizin ihrer Verbrechen?
Yoona versuchte, mir die Bedeutung eines neu entdeckten Wortes zu erklären, Geheimnis . Es war undenkbar, etwas zu wissen, das sonst niemand wusste, nicht einmal Papa Song. Also versprach Yoona eines Nachts, als wir nach Schichtende unter dem Dampfstrahler saßen, mir ein Geheimnis zu zeigen.
Ich wurde nicht vom grellen Solar geweckt, sondern von Yoona, die mich im matten Schein der Nachtbeleuchtung wachrüttelte. Unsere Schwestern lagen, abgesehen von winzigen Zuckungen, still auf ihren Pritschen.
‹Komm mit›, befahl mir Yoona wie ein Seher.
‹Es ist Ausgangssperre›, sagte ich. ‹Ich fürchte mich.›
‹Brauchst du nicht. Komm.›
‹Wo gehen wir hin?›
‹Zu einem Geheimnis.› Sie führte mich aus dem Schlafsaal in den Dom. Die feierliche Stille jagte mir Angst ein. Was vorher rot und gelb gewesen war, war jetzt grau und braun. Papa Songs Sockel war ein toter Stein. Aus Seher Rhees Büro sickerte schwaches Licht. Yoona öffnete die Tür. Damals lernte ich, dass in jedem Geheimnis die Angst vor der Entdeckung lauert.
Der Kopf unseres Sehers war auf die Schreibtischplatte gesunken. Sein voll gesabbertes Kinn klebte am Sony, die Lider flatterten, aus seiner Kehle drangen glucksende Laute. ‹In jeder Zehnten Nacht›, erklärte Yoona, ‹bleibt unser Seher während der Ausgangssperre im Restaurant. Den Assistenten sagt er, er hätte noch Büroarbeiten zu erledigen, aber in Wirklichkeit trinkt er Seife und schläft bis zur gelben Stunde. Bei Reinblütern wirkt Seife wie eine Droge.› Sie trat ihm mit voller Wucht in den Bauch; mein entsetztes Gesicht amüsierte sie. ‹Du kannst mit ihm machen, was du willst, er wacht nie auf. Er lebt schon so lange unter Duplikanten, dass er fast einer von uns geworden ist.›
Yoona öffnete Seher Rhees Schreibtischschublade, nahm einen winzigen silbernen Schlüssel heraus und führte mich durch den Dom zu der Wand zwischen Eingang und Nordost-Sanitär. ‹Was siehst du?›, fragte sie. ‹Nichts›, antwortete ich. ‹Sieh nochmal hin, genauer.› Dann entdeckte ich eine dünne Linie und einen dunklen Fleck. Ich berührte den Fleck; es war ein Loch. Yoona gab mir den Schlüssel. Ich steckte ihn in das Loch. Aus der Linie wurde ein Rechteck, und eine Tür sprang auf. Der dunkle Raum dahinter gab nichts von sich preis. Yoona nahm meine Hand.
Ich zögerte. Vielleicht kostete es keinen Stern, während der Ausgangssperre durch das Restaurant zu streunen, aber unbekannte Räume zu betreten hieß ganz sicher Entsternung. Doch Yoona gab nicht nach. Ich kniete dreimal vor dem Dollarzeichen nieder und ließ mich von ihr mitziehen. Die Tür fiel hinter mir zu. Die Finsternis roch nach Staub, Verwesung und alten Reinigungsmitteln. Yoona flüsterte: ‹So, Sonmi, jetzt bist du in einem Geheimnis.› Ein Schwert aus Licht schnitt durch die Dunkelheit; ich erkannte einen engen Lagerraum, voll gestopft mit vergessenen Gegenständen: aufgestapelte Stühle, Plastikpflanzen, Mäntel, Hüte, Fächer, eine ausgebrannte Sonne, jede Menge Schirme. Yoonas Gesicht; meine Augen. Das Licht tat weh. ‹Ist Licht lebendig?›, fragte ich.
‹Licht ist Leben›, antwortete Yoona. Sie hatte die Taschenlampe unter einem der Tische gefunden, sie in der Nabe versteckt und später in das geheime Zimmer gebracht. Das erschreckte mich am meisten.
Warum?
Nach dem Dritten Katechismus dürfen Bedienerinnen nichts, nicht einmal eigene Gedanken haben, denn jegliche Form von Besitz verleugnet die Liebe, die Papa Song uns mit Seiner Investition erweist. Ich fragte mich, ob Yoona überhaupt noch einen Katechismus befolgte. Sie zeigte mir ein Metallkästchen mit einzelnen Ohrringen, mit Armbändern und Ketten. Dann schob sie ein Smaragddiadem über ihre
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