Der Wolkenatlas (German Edition)
Wie konnten sich Yoonas sprachliche Fähigkeiten in dieser hermetischen Welt entwickeln?
Während des Aufstiegs saugt man Sprache auf wie trockener Boden das Regenwasser. Es fliegen einem Worte aus dem Mund, von denen man nicht einmal weiß, dass man sie besitzt. Vergessen Sie nicht, Archivar, Yoona war keine gewöhnliche Bedienerin, und kein Restaurant ist wirklich hermetisch. Jedes Gefängnis hat Wärter, und Wärter sind Kanäle. Auch ich schnappte während meines Aufstiegs neue Wörter auf: von unserem Seher, seinen Assistenten, Papa Song, den AdVs, den Gästen und ihren Sonys.
Eine ganz allgemeine Frage. Warst du damals glücklich?
Bedeutet Glück, keine Entbehrungen zu kennen? Dann sind Bedienerinnen die glücklichste Schicht in unserer Konzernokratie, so wie die Reinblüter es sich gerne einreden. Bedeutet Glück hingegen, das Schicksal zu besiegen, sich geschätzt zu fühlen und seine Erfüllung zu finden, sind wir von allen Sklaven in Nea So Copros mit Sicherheit die unglücklichsten.
Es gibt keine Sklaven in Nea So Copros! Dieses Wort wurde abgeschafft!
Archivar: Ist Ihre Jugend echt oder ein Erzeugnis von Elixia? Ich will Sie nicht beleidigen, aber warum wurde mein ‹einzigartiger› Fall ausgerechnet Ihnen zugewiesen?
Ich bin nicht beleidigt. Mein Hiersein ist eine Kompromisslösung. Die Eintracht behauptete, ein Ketzer würde dem Staatsarchiv nichts als zersetzendes Gedankengut liefern. Die Genomiker setzten die Juche unter Druck, um Bestimmung 54.3 gegen den Willen der Eintracht durchzudrücken. Sie bedachten jedoch nicht, dass die hochrangigen Archivare, die den Prozess verfolgten, deinen brisanten Fall als Gefahr für ihren guten Ruf einstuften. Ich bin in unserem einflusslosen Ministerium nur ein Archivar der Achten Schicht, aber als ich um die Zuweisung deines Falls bat, erhielt ich die Genehmigung, bevor ich meine Meinung wieder ändern konnte. So. Dein ‹Beichtvater› hat gebeichtet.
Dann setzen Sie für meine Aussage Ihre gesamte Karriere aufs Spiel?
… So könnte man sagen, ja.
Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass alle Befrager doppelzüngig sind, aber Ihre Offenheit ist erfrischend.
Mit einem doppelzüngigen Archivar wäre niemandem gedient! Aber erzähle mir bitte ein wenig von Seher Rhee. Er spielte in deinem Leben bei Papa Song eine entscheidende Rolle. Wie war er?
Seher Rhee war ein Konzernler durch und durch. Er wünschte sich nichts mehr, als in die Xec-Schicht des Papa-Song-Konzerns aufzusteigen; eine vergebliche Hoffnung. Er war längst über das Alter hinaus, in dem ein Seher in eine wirkliche Machtposition befördert wird. Rhee klammerte sich an den Glauben, dass Fleiß und tadellose Führung genügten, um sein heiß ersehntes Ziel zu erreichen. Er verbrachte die Ausgangssperre meistens in seinem Büro, war zuvorkommend zu den Gästen, kriecherisch gegenüber seinen Vorgesetzten, zeigte seinen Duplikanten die Peitsche und war liebenswürdig zu den vielen Männern, die ihm Hörner aufsetzten, weil er hoffte, sie würden ihn auf ihrem Weg nach oben mit sich nehmen.
Sagtest du ‹Hörner aufsetzten›?
Seher Rhee lässt sich nur in Zusammenhang mit seiner Ehefrau verstehen. Frau Rhee benutzte ihren Mann als Dollareuter. Sie hatte schon vor Jahren ihr Recht auf einen männlichen Nachkommen verkauft und den Ertrag klug angelegt. Das Einkommen ihres Mannes gab sie für Elixia-Präparate und Facedesign aus, sodass man sie trotz ihrer siebzig Jahre für eine Dreißigjährige hielt. Frau Rhee kam häufig ins Restaurant, um die neuen Assistenten zu begutachten. Offenbar verfügte sie in der Papa-Song-Hierarchie über einigen Einfluss; Yoona~939 erzählte mir, dass die Assistenten, die ihr zu Diensten waren, mit der Beförderung in ein renommierteres Restaurant rechnen konnten. Die jungen Unglücksraben, die sich verweigerten, landeten in der finstersten Mandschurei.
Warum setzte sie ihren Einfluss nicht zum Wohl ihres Mannes ein?
Wie ihre Ehe im Einzelnen funktionierte, weiß ich nicht, Archivar, und ich kann auch nicht darüber spekulieren. Diese Frage werden Sie Frau Rhee persönlich stellen müssen.
Aber warum nahm Seher Rhee diese … ständigen Demütigungen hin?
Erstens: Mit dem Glanz, den seine Frau bei Konzernfeiern verströmte, kompensierte er seine eigenen Defizite. Zweitens: Es gab noch nie ein geschiedenes Vorstandsmitglied. Drittens: Ihm blieb nichts anderes übrig.
Glaubst du, Yoona~939 bedrohte seinen makellosen Ruf?
Das tat sie
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