Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
Vom Netzwerk:
geflochtenen Zöpfe und legte mir blaue Perlen um den Hals. Ich fragte sie, wie sie das Geheimniszimmer gefunden hatte.
‹Neugier›, antwortete sie.
Dieses Wort war mir unbekannt. ‹Ist Neugier eine Taschenlampe? Oder ein Schlüssel?›
‹Beides›, antwortete Yoona. Dann zeigte sie mir den schönsten Schatz von allen. ‹Dieses Buch›, sagte sie ehrfürchtig, ‹zeigt das Draußen, wie es wirklich ist.›
     
    Dann sprach Yoona nicht nur wie ein Reinblüter, sondern sie konnte auch lesen?
Ich stellte ihr dieselbe Frage; sie verneinte bekümmert. Aber wir sahen uns die Bilder an. Eines zeigte ein kerzenerleuchtetes Zimmer mit Reinblütern in prächtig schimmernden Kostümen. Ich war wie gebannt. Warum bewegten sich die Bilder nicht wie die auf den Sonys der Gäste? Yoona vermutete, dass das Buch kaputt war; das erklärte auch, warum sein Besitzer es hatte liegen lassen.
Das Buch hatte viele Bilder: Eine schmutzige Bedienerin bediente drei hässliche Schwestern, eine weiße Hexe überschüttete sie mit Sternen und verwandelte sie in eine feine Dame wie Frau Rhee; ein gut aussehender Reinblüter schlug sich mit einem Schwert durch einen dornigen Wald; sieben kleine Duplikanten mit merkwürdigen Bestecken gingen hinter einem Mädchen in einem weißen Kleid her; ein Haus aus Zucker; ein Seepferdchen kämmte einer Meerjungfrau die Haare; Schlösser, Spiegel, Drachen. Natürlich konnten wir die meisten Gegenstände nicht benennen. Die meisten Wörter, die ich in diesem Gespräch verwende, kannte ich noch nicht, als ich Bedienerin war.
Die Fülle an merkwürdigen Dingen während einer einzigen Ausgangssperre benebelte meine Sinne. Yoona richtete die Taschenlampe auf eine Rolex und sagte, wir müssten vor der gelben Stunde wieder im Schlafsaal sein. Nächstes Mal, versprach sie, würde sie mir mehr zeigen.
     
    Gab es denn ein nächstes Mal?
Natürlich. Zehn-, vielleicht auch fünfzehnmal weckte Yoona mich nachts auf und nahm mich mit zu ihrem Geheimnis. Jedes Mal schwor ich mir, es würde das letzte Mal sein. Jedes Mal staunte ich über neue Schätze. Bis zum Winter trat das lebhafte Wesen meiner Freundin nur zutage, wenn wir unsere heimlichen Ausflüge in die Schatzkammer unternahmen. Während sie über das Buch vom Draußen nachdachte, äußerte sie Zweifel, die meinen Glauben an alles erschütterten, was ich für wahr hielt.
     
    Welcher Gestalt waren diese Zweifel?
Zweifel an den Gewissheiten der Duplikantenwelt. Wie konnte Papa Song in Seinem Restaurant am Chongmyo Plaza auf einem Sockel stehen, während Er gleichzeitig an den Stränden im Elysium spazieren ging? Warum wurden Duplikanten mit Schulden geboren und Reinblüter nicht? Wer hatte festgelegt, dass Papa Songs Investition zwölf Jahre lang zurückgezahlt werden musste? Warum nicht elf? Sechs? Oder ein Jahr?
     
    Wie hast du darauf reagiert?
Ich flehte Yoona an, mit den verbotenen blasphemischen Reden aufzuhören. Ich hatte Angst, man würde sie zur Reorientierung schicken. Ich hatte Angst, entsternt zu werden, weil ich sie nicht verriet. Mit ihren Zweifeln beschuldigte sie Papa Song schrecklicher Lügen. Sie gab sogar zu, dass sie genau das getan hatte, eines Nachts, bevor sie mich in ihr Geheimnis einweihte. Sie hatte sich vor Seinen Sockel gestellt und es ausgesprochen: Lügner . Nur um zu sehen, was passieren würde.
‹Nichts ist passiert›, sagte Yoona, ‹gar nichts. Also frage ich mich, gibt es unseren Logoman überhaupt?›
Ich sprach meine Katechismen so oft wie nie zuvor, betete zu Papa Song, Er möge meine Freundin heilen, flehte Yoona an, Normalität vorzutäuschen. Es war alles vergeblich: Sie benahm sich von Tag zu Tag reinblütiger. Nicht mehr lange, und selbst Seher Rhee würde sich gezwungen sehen, ernsthafte Maßnahmen zu ergreifen. Yoona guckte sich beim Abräumen und Wischen der Tische AdVs an. Unsere Schwesterduplikanten mieden sie. Yoona~939 war das egal. Eines Nachts vertraute sie mir in der Schatzkammer an, dass sie das Restaurant verlassen wollte; ich sollte mit ihr kommen. ‹Die Reinblüter halten uns unter der Erde gefangen und zwingen uns zum Arbeiten›, sagte Yoona, ‹damit sie all die schönen Orte da oben für sich alleine haben.›
Ich erwiderte, dass ich nie eine so schlimme Abweichung begehen könnte, und sagte den Sechsten Katechismus auf. Yoona~939 reagierte zornig. Sie sagte, ich sei genauso dumm und feige wie meine Schwestern.
     
    Zwei Bedienerinnen, die ohne fremde Hilfe aus ihrem Konzern flüchten? Das wäre

Weitere Kostenlose Bücher