Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
Vom Netzwerk:
hatte.
     
    Siehe deine Zukunft, Cavendish der Jüngere. Du wirst keine Mitgliedschaft beantragen, doch der Stamm der Alten wird dich für sich beanspruchen. Deine Gegenwart wird mit der Welt nicht länger Schritt halten. Dieser Rückstand lässt deine Knochen schrumpfen, frisst dir Haare und Gedächtnis weg und macht deine Haut so dünn und pergamenten, dass die zuckenden Organe und blauschimmeligen Adern hindurchscheinen. Du wirst die Wochenenden und die Schulferien meiden und dich nur noch bei Tageslicht hinauswagen. Auch die Sprache wird dich abhängen und mit jedem deiner Worte deine Stammeszugehörigkeit verraten. Auf Rolltreppen, Fernstraßen, im Supermarkt werden die Lebenden dich unentwegt überholen. Elegante Damen werden dich übersehen. Kaufhausdetektive werden dich übersehen. Verkäufer werden dich übersehen, es sei denn, sie verschachern Treppenlifte oder windige Versicherungen. Nur Kinder, Katzen und Junkies werden deine Existenz zur Kenntnis nehmen. Vertrödele also deine Tage nicht. Eher, als du befürchtest, stehst du in einem Pflegeheim vorm Spiegel und fühlst dich beim Anblick deines Körpers wie ET, nachdem er vierzehn Tage lang im Schrank eingesperrt war.
     
    Ein geschlechtsloser Roboter brachte ein Tablett mit Mittagessen. Ich will nicht beleidigend sein, aber es war mir schier unmöglich festzustellen, ob sie ein Er oder er eine Sie war. Es hatte einen leichten Schnurrbart, aber auch winzige Brüste. Ich spielte mit dem Gedanken, es bewusstlos zu schlagen und wie Steve McQueen hinaus in die Freiheit zu stürmen, aber außer einem Stück Seife besaß ich keine Waffe und außer meinem Gürtel nichts, womit ich es hätte fesseln können.
    Das Mittagessen bestand aus einem lauwarmen Lammkotelett. Die Kartoffeln waren Stärkebomben. Die Dosenerbsen waren Ekel erregend, denn das sind sie von Natur aus. «Kommen Sie», bat ich den Roboter, «bringen Sie mir wenigstens etwas Dijonsenf.» Es zeigte auf keine Weise, ob es mich verstanden hatte. «Grob oder mittelscharf, ich bin nicht wählerisch.» Es wandte sich zum Gehen. «Warten Sie! Sie – sprechen – Englisch?» Es war fort. Meine Mahlzeit starrte mich in Grund und Boden.
    Meine Taktik war von Anfang an falsch gewesen. Ich hatte versucht, mich mit Gezeter aus meiner absurden Lage zu befreien, aber genau das ist einem Anstaltsinsassen untersagt. Sklaventreiber freuen sich über einsame Rebellen, damit sie jemanden haben, den sie vor den anderen herunterputzen können. In allen Gefängnisbüchern, die ich gelesen habe, sei es Der Archipel Gulag , Brian Keenans Schilderung seiner Geiselhaft im Libanon oder Faustfutter , steht, dass Rechte durch geschicktes Feilschen nach und nach erkämpft werden müssen. Der Widerstand des Gefangenen rechtfertigt in den Köpfen der Gefängniswärter nur umso härtere Bestrafungsmaßnahmen.
    Es wurde Zeit für eine List. Ich musste mir reichlich Notizen für etwaige Schadensersatzzahlungen machen. Höflich sein zur schwarzen Noakes. Doch als ich kalte Erbsen auf meine Plastikgabel häufte, explodierte in meinem Schädel eine Kette Knallkörper, und die alte Welt ging jäh zu Ende.

Sonmis Oratio
    Künftige Historiker werden deine Kooperation zu würdigen wissen, Sonmi~451. Wir Archivare danken dir schon heute. Unsere Dankbarkeit mag nicht von Belang sein, ich werde mich jedoch bemühen, dir jeden letzten Wunsch zu erfüllen, sofern es in der Macht meines Ministeriums liegt. Dieses silberne, eiförmige Gerät hier ist ein Orator. Er zeichnet dein Gesicht und deine Worte auf. Wenn wir fertig sind, wird er im Ministerium für Testamente archiviert. Vergiss nicht, es handelt sich weder um ein Verhör noch um einen Gerichtsprozess. Es zählt allein deine Version der Wahrheit.
Eine andere Wahrheit hat für mich nie gezählt.
     
    Fangen wir also an. Normalerweise bitte ich die Befragten, ihre frühesten Erinnerungen zu schildern. – Du wirkst verunsichert?
Ich habe keine frühesten Erinnerungen, Archivar. Meine Tage bei Papa Song waren einander so gleich wie die Pommes, die wir verkauften.
     
    Bitte beschreibe mir diese Welt.
Das Restaurant gehörte dem Papa-Song-Konzern; ein Dom von circa achtzig Metern Durchmesser. Die Bedienerinnen bleiben dort zwölf Arbeitsjahre, ohne den Dom jemals zu verlassen. Der Restaurantbereich ist ganz in Rot und Gelb gehalten; Sterne, Streifen, die aufgehende Sonne. Das Celsius ist dem Draußen angepasst: wärmer im Winter, kühler im Sommer. Unser Papa Song lag im minus neunten

Weitere Kostenlose Bücher