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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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doch der reinste Wahnsinn. Die Eintracht hätte euch innerhalb von fünf Minuten dingfest gemacht.
Woher sollte Yoona~939 das wissen? Ihr Buch vom Draußen verhieß eine große, weite Welt voller Schönheit und Orte zum Verstecken.
Der Winter meines ersten Sternjahrs brach herein. Die Konsumenten klopften sich am Eingang den Schnee von den Nikes, und wir mussten ständig die Fußböden wischen. Yoona verfiel in lethargische Gleichgültigkeit. Der Aufstieg erzeugt einen so bohrenden Hunger, dass er schließlich den Verstand auffrisst.
     
    Wurde Yoona~939s Abweichung durch ein bestimmtes Ereignis ausgelöst, oder kam sie … aus heiterem Himmel?
Die Abweichung war eine Zwangsläufigkeit, die nur auf einen Auslöser wartete. Während des Neujahrssextetts, als täglich Scharen von Feiertagsgästen hereinströmten, kam Seher Rhee an die Nabe und rügte Yoona, weil sie die Gäste lustlos begrüßte. Er befahl ihr, fünfzigmal Papa Songs Willkommensgruß aufzusagen: ‹Hallo, ich bin Yoona~939! Unwiderstehlich lecker, Papa Song! Bitte schön, was darf es heute sein?›
Als Yoona bei fünfundvierzig angekommen war, forderte Seher Rhee sie auf, noch einmal von vorne zu beginnen. ‹Ein seelenloser, ausgebrüteter Klon zu sein ist keine Entschuldigung für mangelnde Arbeitsmoral. Wenn du noch einmal gegen den Vierten Katechismus verstößt, wirst du zu Dünger reorientiert!›
Ich fürchtete, Yoona könnte ein entsternungswürdiges Verbrechen begehen, doch zur großen Genugtuung von Seher Rhee sagte sie den Willkommensgruß fünfzigmal auf; nur ich wusste, wie viel Überwindung sie das kostete. Unser Seher kehrte in sein Büro zurück, hoch zufrieden mit dem Respekt einflößenden Eindruck, den er bei den Schlange stehenden Gästen hinterlassen hatte.
‹Besser ein seelenloser Klon›, sagte Yoona kalt hinter seinem Rücken, ‹als eine beseelte Kakerlake.›
Ich betete zu Papa Song, dass niemand sie gehört hatte; meine Gebete kannten keinen anderen Adressaten. Aber warum sollte Er meiner undankbaren Schwester helfen? Dann sah ich, wie Ma-Leu-Da~108 Assistent Cho etwas zuflüsterte. Der Assistent brachte sie in Seher Rhees Büro.
Etwas Schreckliches stand bevor.
     
    Hast du Yoona~939 von deinen Befürchtungen erzählt?
Der Aufstieg meiner Schwester war schon zu weit fortgeschritten; sie fühlte sich Seher Rhee hierarchisch nicht mehr unterlegen. Nach der Vesper stiefelte unser Seher missmutig um die Nabe herum. Eine von uns hätte ihrer Uniform Schande gemacht, verkündete er. Ob die Schuldige den Mut habe, ihr Verbrechen zu gestehen?
Seher Rhee blieb vor Yoona stehen.
‹Du musst eine Kakerlake sein›, sagte Yoona. ‹Denk doch mal nach. Das erklärt, warum du Seife frisst: Kakerlaken sind Allesfresser. Das erklärt, warum deine Frau und deine Assistenten sich vor dir ekeln: Kakerlaken sind ekelhaft. Das erklärt, warum du so flink umherkrabbelst und deine Haut so glänzt: Kakerlaken sind Krabbeltiere und glänzen.›
Wir anderen trauten unseren Ohren nicht.
Seher Rhee ließ seine Aktentasche aufschnappen. ‹So, so.› Er holte das Buch vom Draußen heraus. Und riss ein Bild nach dem anderen heraus. ‹Sieh dir an›, ratsch , ‹was eine Kakerlake›, ratsch , ‹mit deinen Geheimnissen›, ratsch , ‹deinen Schätzen›, ratsch , ‹deiner Zukunft machen kann.›
Yoona~939 packte das Buch, aber Seher Rhee war ein kräftiger Mann. Er nahm meine Freundin in den Würgegriff und schlug ihren Kopf so lange gegen den Sockel, bis ihre Glieder schlaff herunterhingen. Dann trat er auf sie ein, bis sein Gesicht vor Anstrengung dunkelrot anlief. Yoona war blutüberströmt und fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt. ‹Seht sie euch an›, knurrte er uns geduckten Duplikanten zu. ‹So ergeht es Klonen, die mehr denken, als ihrer Schicht zusteht. Diese Abweichlerin hier wird gleich morgen früh zur Reorientierung geschickt.› Seher Rhee beugte sich vor, drückte ihr seinen Nike ins Gesicht und riss ihr das Halsband ab. Den implantierten Barcode in ihrer Luftröhre ließ er unversehrt. An seinen Fingern klebten Blut und Membran. Wortlos steckte er Ma-Leu-Da einen verschmierten Stern ins Halsband. Die übrigen neun Arbeitssterne von Yoona~939 zermalmte er mit dem Absatz seines Nikes.
Ma-Leu-Da sah nicht glücklich aus mit ihrer Auszeichnung. Welch ein Unterschied zu den ausgelassenen Sternzeremonien. Assistent Cho befahl zwei Hwan-Soons, meine bewusstlose Freundin in den Schlafsaal zu ziehen. Ich erhielt den Auftrag, ihr Blut

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