Der Wolkenatlas (German Edition)
aufzuwischen.
Dürfen Seher Konzerneigentum ungestraft so schweren Schaden zufügen?
In der Theorie führen die Seher ihre Duplikanten, wie sie es für richtig halten. In der Praxis aber schadete es Rhees Ansehen in der Hierarchie, dass er eine Bedienerin so schlimm zugerichtet hatte. Yoona~939 war in der betriebsamsten Zeit des Jahres arbeitsunfähig geworden. Kein Med war abkömmlich. Sie während des Neujahrssextetts zur Reorientierung zu bringen war ausgeschlossen. Sie wurde auf ihrer Pritsche bewusstlos gehalten und hing am Seifentropf.
Aber Yoona~939s Abweichung an Silvester war weitaus schwerwiegender. Kannst du den Vorfall aus deiner Perspektive beschreiben?
Ich wischte auf meiner Station Tische ab; mein Standort war etwas erhöht, und so hatte ich freie Sicht. Assistent Cho war für unsere beschädigte Schwester eingesprungen und bediente an der Nabe. Im Ostteil, neben dem Fahrstuhl, gab es ein Kinderfest. Alles war voll mit Ballons, Luftschlangen und bunten Hüten. Popsongs und der Lärm von vielen hundert Gästen hallten durch den Dom. Papa Song warf 3D-Eclairs in die Menge. Sie flogen wie Bumerangs über die Köpfe der Kinder hinweg, glitten ihnen zwischen den Händen durch und landeten auf der schlangenartigen Zunge unseres Logoman. Ich dachte an Yoona; ich befürchtete, dass sie mich für eine Verräterin hielt. Plötzlich ging die Tür zum Schlafsaal auf und Yoona~939 erschien, verschwollen und mit Blutergüssen übersät.
Sie humpelte auf die feiernden Kinder zu. Ich wusste, was sie vorhatte. Obwohl sie in entsetzlicher Verfassung war, blickten nur wenige Gäste von ihrem Essen, den Sonys oder AdVs auf; vereinzelte Konsumenten zeigten auf sie, aber niemand schlug Alarm. Als Yoona einen kleinen Jungen im Matrosenanzug hochhob, hielten die unbeteiligten Zuschauer sie für einen Nanny-Duplikanten, der mal wieder mit seiner Herrin aneinander geraten war.
Laut Medienberichten raubte Yoona das Kind, um es als Schutzschild zu verwenden.
Die Medien berichten, was die Eintracht ihnen vorschreibt. Das Buch vom Draußen war ein Märchenbuch, kein Vademekum für Terroristen. Verstehen Sie, Archivar, Yoona glaubte wirklich, dass der Fahrstuhl in das Zauberkönigreich auf den Bildern führte. Sobald sie oben war, wollte sie in fernen Lichtungen und samtigen Bergen verschwinden. Sie nahm das Kind nur mit, weil der Fahrstuhl einen seelenlosen Duplikanten nicht hinaufgefahren hätte. Sie wollte es weder als Geisel oder als Schutzschild nehmen, noch wollte sie es verspeisen und seine Knochen ausspucken; sie hätte den Jungen sofort wieder nach unten geschickt.
Hatte sie ihren Fluchtplan nicht mit dir besprochen?
Yoona besprach überhaupt nichts mehr mit mir; sie handelte im Alleingang. Sie trug den verängstigten Jungen zum Fahrstuhl, ohne mich zu sehen. Aber die Mutter des Jungen sah Yoona, gerade als die Fahrstuhltür hinter ihr zuging; ihr gellender Schrei bohrte sich durch den Lärm. Hysterie brach los: Tabletts fielen zu Boden, Shakes schwappten über, Reinblüter rannten in Panik umher. Ein Vollstrecker außer Dienst zog seinen Colt, stürzte sich in das Getümmel und sorgte brüllend für Ruhe.
Seher Rhee trat aus seinem Büro, rutschte auf einem verschütteten Getränk aus und verschwand in der Flut panischer Konsumenten. Papa Song surfte auf Seinem Sockel über Nudelwellen.
Assistent Cho schrie in sein Handsony.
Die Gerüchte multiplizierten sich mit rasender Geschwindigkeit: Eine Yoona hat einen Jungen entführt; nein, ein Baby; nein, ein Reinblüter hat eine Yoona entführt; ein Vollstrecker hat einen Jungen erschossen; nein, ein Duplikant hat einen Vollstrecker erschossen; eine Yoona hat den Seher geschlagen, seht nur, seine Nase blutet.
‹Der Fahrstuhl!›, schrie jemand. ‹Er kommt!›
Das Chaos erstarrte zu eisiger Stille.
Der Vollstrecker schrie ‹Aus dem Weg!›, ging in die Hocke und zielte auf die Tür.
Gäste sprangen aus der Schusslinie.
Der Fahrstuhl ging auf. Der Junge lag zitternd und zusammengerollt in einer Ecke; sein Matrosenanzug war schmutzig, aber er schien unversehrt. Yoona~939 war nur noch eine von Kugeln durchsiebte, breiige Masse.
Dieses Bild habe ich auch gesehen, Sonmi. Als ich an jenem Abend aus dem Ministerium nach Hause kam, saßen meine Mitbewohner wie gebannt vor dem Sony. Fast ganz Nea So Copros sah zu. Der Bericht wurde endlos wiederholt, mit den Aufnahmen einer Überwachungsnikon, die festgehalten hatte, wie der Vollstrecker die Abweichlerin Yoona
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