Der Wolkenkratzerthron (German Edition)
Eierschalenaugen stand. »Du gehst also trotzdem?«, brach Gossenglas schließlich das Schweigen.
»Was denkst du?«
Eine Kakerlake in Gossenglas’ Mund fauchte missbilligend, und etwas stieß gegen Beths Schienbein. Sie sah nach unten. Es war Fils rostiger Speer, getragen von einer wimmelnden Flut von Käfern.
»Den kannst du vielleicht brauchen.«
Müdigkeit lag auf seinem kleinen Gesicht, aber auch eine seltsame Art von Genugtuung. »Für den unwahrscheinlichen Fall, dass du nahe genug herankommst, stoß ihn dem Krankönig in den Rachen.«
Beths Griff schloss sich um die Eisenstange. Die Kerben und Vertiefungen in dem Metall schienen wie für ihre Finger gemacht. Sie konnte die Kontur von Fils Handabdruck förmlich spüren.
»Es ist nicht viel«, sagte Gossenglas, »aber ohne Mater Viaes Großen Brand müssen wir eben improvisieren.«
Bedächtig atmete Beth aus. »Ich werde ihn töten, Glas«, schwor sie und kostete dabei jedes Wort. »Für Fil, für Elektra, für Pen. Und für mich.«
Gossenglas’ Nahtlächeln verriet, dass er ihr nicht glaubte, doch er nickte. Dann zerfiel er, sehr langsam. Seine Eierschalenaugen musterten sie bis zuletzt.
Als Gossenglas fort war, beugte sie sich hinunter und küsste Fils Stirn. »Du hast mich nach Hause gebracht«, flüsterte sie in sein Ohr. Es schmerzte sie, körperlich, tief in der Brust, ihn so zurückzulassen, aber er hatte Gossenglas, und Gossenglas hatte seine Armee, und Pen, ihre Freundin, die sie stärker und aufrichtiger liebte als jeden anderen Menschen, die sie aus lauter verletztem Stolz beinahe aus ihrem Gedächtnis verbannt hätte, Pen hatte nur sie.
Fil hatte fest daran geglaubt, dass sie wie er sein könnte, also war sie es ihm schuldig mehr zu tun, als bloß wegzulaufen. »Ich hab dir mal das Leben gerettet, denk dran«, sagte sie leise, als sie sich schon zum Gehen wandte. »Sieh zu, dass es keine vergebliche Mühe war. Ich werde versuchen, das gleiche zu tun.«
Es waren nur dreißig Meter bis zum umzäunten Rand der Deponie. Der Asphalt dahinter fühlte sich nahrhaft an unter Beths Füßen, während sie rannte und London an ihr vorbeiwischte, all die Lichter, der Lärm, die Pracht, der Gestank. Der Speer in ihrer Hand wies den Weg nach Süden.
Nicht lange, dann ragten die ersten Kräne am Horizont auf und Beth wandte sich Richtung Osten. Der gewaltige Umriss von St Paul’s tauchte auf wie ein riesiger schwarzer Käfer, der vor der aufgehenden Sonne kauerte. Die Abrissfelder kamen näher.
Kapitel 40
»Ich krieg’s einfach nicht hin, dass es passt.«
Verzweifelt sah Parva ihren Vater an, der ihr am Tisch gegenübersaß. Sie wusste, wie das hier enden würde. Sie hatte sich unter Schmerzen in ihren grünen Hochzeitssharara gezwängt, der waghalsig eng war und dessen Oberteil sich in die Schnittwunden unter ihren Armen grub.
Ihr Vater erwiderte ihren Blick nicht, sondern beugte sich weiter mit gerunzelter Stirn über seine Kladde. »Komm her und hilf mir, Parva.«
Gehorsam stand sie auf und stellte sich neben ihn. Hinter ihr schabte ein Messer über Porzellan, als ihre Mutter das Essen in den Mülleimer warf.
»Siehst du?«, brummte ihr Vater. Er roch nach Nüssen und trockenem Tabak. »Er verlangt ein Vermögen.«
Parva starrte auf ihr eigenes entstelltes Gesicht. Der Stift lag in der Hand ihres Vaters, doch es war Beths Stil, der das Bild prägte.
Ihr Vater sackte seufzend nach vorn, sein Atem fuhr in die weißen Haare auf seinen braunen Armen. »Ich kann’s mir nicht leisten. Ich kann’s nicht. Das wird mich ruinieren. Ich werde die Praxis verkaufen müssen.«
Ein Scheppern ließ sie beide den Blick heben. Parvas Mutter beugte sich über die Scherben eines zerbrochenen Tellers. Ihre Hand zitterte. »Warum, Parva? Warum konntest du nicht besser auf dich achtgeben? Ich hab es dich doch gelehrt .« Sie schluchzte, und sie sah schrecklich alt aus.
»Ich fürchte, es ist noch schlimmer, als Sie denken, Mrs K«, sagte eine vertraute Stimme. Beth schlenderte aus dem vorderen Zimmer herein, die Hände in den Taschen ihres Kapuzenpullis vergraben.
»Darf ich?« Sie zog Parvas Vater den Bleistift aus den reglosen Fingern und begann, an seinem Bild herumzukritzeln, die Zunge zwischen die Zähne geklemmt, den Blick hoch konzentriert. Unter ihren Strichen offenbarte sich das wahre Ausmaß von Parvas Verletzungen. Sie ließ den Stift zwischen den Fingern herumwirbeln und radierte mit dem Gummiende ein Nasenloch und ein halbes Ohr aus. Dann
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