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Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Titel: Der Wolkenkratzerthron (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Pollock
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in den Boden gerammt hatte, war Reachs Interesse erloschen. Sie hatte den gelangweilten Ausdruck auf dem riesigen Kleinkindgesicht gesehen, hatte beobachtet, wie die Wölfe an der Waffe geschnuppert hatten, die aus dem Hals ihres Gottes ragte, und sie einfach dort hatten stecken lassen –
    – weil sie ihn nicht verletzt hatte, begriff sie plötzlich: Der Speer hatte Reach nicht das Geringste anhaben können. Und der Straßenprinz hatte nichts weiter getan, als zu demonstrieren, dass er keine Bedrohung war.
    Beth merkte, dass sie laut auflachte, gefangen irgendwo auf der falschen Seite der Hysterie. Reach war ein Baby mit der Aufmerksamkeitsspanne eines Säuglings. Sie beide hatten sich weder als ungewöhnlich noch als gefährlich erwiesen, also waren sie nicht weiter interessant.
    »Wo ist sie?«, murmelte Fil, vornübergesackt wie eine leere Handpuppe. Seine Finger umklammerten seine Knie. »Wo ist sie?« Zittrig holte er Atem. »Wo ist sie, Beth?«
    »Wo ist wer, Kumpel?«, fragte sie. Sie zwang eine Lockerheit in ihre Stimme, die sie ganz und gar nicht empfand. Sie wusste nicht, was sie tun würde, wenn Fil jetzt vollkommen verzweifelte.
    »Wo ist meine Mutter?« Seine Augen flackerten. Er blickte starr auf die Wand, doch Beth ahnte, dass er eigentlich Richtung Osten starrte, hinüber zu den Docklands und den Tümpeln der Chemischen Synode, dorthin, wo Mater Viae zum letzten Mal gesehen worden war.
    »Sie müsste doch hier sein … inzwischen … ich hab gedacht – « Er faselte wirr. »Ich war so dämlich – ich hab echt geglaubt, ich könnte sie sein.« Er versuchte sich an einem Lachen, doch es verging in hektischen Atemzügen. »Wo ist sie?«
    Wo ist meine Mum? Die Frage stach in Beths Brustkorb. Sie erinnerte sich an all die einsamen, trostlosen Monate, in denen sie sich die gleiche Frage gestellt hatte. Inzwischen erstickte sie sie sofort, wann immer sie ihr in den Sinn kam. Ungeschickt versuchte sie, ihn zu umarmen. »Ich weiß es nicht – tut mir leid, echt. Ich weiß es nicht.«
    Er lehnte das heiße Gewicht seines Kopfes an ihre Schulter, und der scharfe Benzingeruch seines Bluts stieg ihr in die Nase.
    »Ich wünschte – « Weiter kam er nicht.
    Die Welt erzitterte, ein dichter Schleier aus Zementstaub senkte sich von der Decke. Beth spürte, wie Fil in ihren Armen verkrampfte.
    »Was in Thems’ Namen war das?« , wisperte er.
    Beth löste sich behutsam und lehnte ihn wieder gegen die Wand, ehe sie hinüber zum Tunnelausgang schlich. Ihr Magen zog sich zusammen. Sie machte sich schon halb darauf gefasst, irgendein neues von Reachs Ungetümen auf sich zutrampeln zu sehen. Grimmig packte sie den Speer mit der linken Hand, schob langsam den Kopf aus der Deckung und –
    – keuchte auf.
    Der komplette hintere Grenzwall der Baustelle war niedergerissen, als hätte eine gigantische Faust ihn zermalmt, doch anstelle dieser Betonbarriere erhob sich dort bereits eine weitere, ganz aus Stein: aus steinernen Körpern . Ganze Heerscharen von Kriegshelden, Gelehrten, Suffragetten, Parteiführern, sogar abstrakt-geometrischen Skulpturen, Hunderte von ihnen: Die Bordsteinpriester waren gekommen. Mehr Steinhäute, als Beth je gesehen hatte, drängten sich in der schmalen Backsteingasse, so weit das Auge reichte.
    Sie atmete tief ein, und eine stürmische Hoffnung hob ihre Brust. »Das ist Petris«, flüsterte sie.
    Der granitene Mönch stand in vorderster Reihe. Als er sprach, klang seine Stimme so gnadenlos wie eine Winternacht ohne Obdach. »Reach delenda est.« Das Kommando dröhnte über die Ödnis aus Trümmern und Schutt. Das Bordsteinpriester-Bataillon rührte sich. »Sic Gloria Viae. Reach delenda est.«
    »Reach delenda est.« Sie alle fielen im Chor mit ein, skandierten die Worte wie eine Hymne, mit klaren, sonoren Stimmen. »Reach delenda est.«
    Die Kriegerpriester rückten vor, der dumpfe Klang ihres Gleichschritts schlug den Rhythmus zu ihrem Sprechgesang. Sie waren die Hüter des alten Glaubens, gefangen in den Gestalten der Londoner Helden aus längst vergangenen Zeiten. Sie sangen das Lob ihrer gefallenen Stadt.
    Metallene Wölfe und Männer und andere, fremdartige Wesen kletterten von den eingerüsteten Fassaden der Hochhäuser und marschierten über die Trümmerlandschaft, um sich den Priestern entgegenzustellen. Stahlklauen klirrten über die Backsteinruinen, als die Ungetüme ihre Schritte beschleunigten.
    Die vorderste Reihe der Bordsteinpriester flackerte. Beth zuckte unwillkürlich

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