Der Wolkenkratzerthron (German Edition)
Leib. Sie hatte das Gefühl, in der Falle zu sitzen, so als wäre die Stadt ihr Käfig und nur der halbe Hektar Land, der die Kathedrale umgab, verhieße Freiheit – dieser halbe Hektar, der dort spöttisch unter ihr lag, in der Hand des Krankönigs, wo die Drahtmeisterin mit ihrer blutenden Beute Unterschlupf gefunden hatte.
Reachs Dienerin war quer durch London gejagt. Elektra war ihr mit vollem Körpereinsatz hinterhergestürzt, mit ihren Händen und Feldern und Füßen, war über morsche Gartenzäune gehechtet, hatte verbrannte Spuren auf tadellos getrimmtem Rasen hinterlassen. Irgendwann waren sie auf die mondbeschienenen Dächer geklettert. Mit ihren Stacheln fand die Drahtmeisterin besseren Halt auf den Ziegeln, und sie presste mehr und mehr Geschwindigkeit aus ihrem Wirt. Das Fleischgör weinte und formte gestaltlose Klagelaute mit seiner durchstochenen Zunge, und es gehorchte.
Lek war ihr Meile um Meile nachgejagt, angetrieben von hunderttausend Volt starkem Hass, und erst als plötzlich die Kräne über den Dächern aufgetaucht waren, war sie schlitternd zum Stehen gekommen. Jetzt tobte sie und spie Funken. Einen kurzen, wahnsinnigen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, vom Dach zu springen und anzugreifen, Kräne hin oder her, doch selbst in ihrer Wut wusste sie genau, wie das enden würde: Reachs Metallklaue würde sich drehen, die Kette über die Laufrollen rasseln, der rostige Haken blitzartig herumschwingen, Schmerz und Blut bringen und dann gar nichts mehr.
Wenn der Krankönig dich tötet , flimmerte sie sich zu, indem sie das Licht so einfach und behutsam phrasierte, als redete sie mit einem Kleinkind, wird die Drahtmeisterin entkommen .
Sie spürte, wie die letzte Wärme ihrer Bewegungsenergie sie verließ, und in deren Gefolge überlief sie ein kalter Schauer, der nicht zur Nacht gehörte. Lek hockte sich auf die Dachziegel, starrte mit tränenverbrannten Augen ins Leere. Tief in ihrem Innern rumorte ein Gefühl, als stünde sie an einem Abgrund, als bedeutete ein einziger Schritt nach vorn einen endlosen Sturz in die Dunkelheit. Sie hatte so etwas schon einmal empfunden, fiel ihr ein, obwohl ihr dieser Vergleich jetzt, da ihre Schwestern tot waren, wie ein Verrat vorkam.
Das Gefühl spülte eine Erinnerung herauf: Sie stand draußen vor dem Lagergebäude in Stepney in der allerletzten Nacht des Spektralkrieges, ihre Hand flach gegen das Holz der Tür gepresst. Noch war sie kaum mehr als ein Zündfunke, doch die Kinder des Tel-Nox-Clans erhielten ihre Feuertaufen früh. Sie war nichts weiter als ein verängstigtes kleines Mädchen, das sich verzweifelt an die Schrittfolgen ihres kaum recht geprobten Kriegswalzers zu erinnern versuchte, in ihr bleischwer die Gewissheit, dass sie, sobald sie stolperte, tot war, und nicht nur sie, sondern auch die anderen Mädchen hinter ihr.
Aber es gab keine marodierenden Horden von Whiteys auf der anderen Seite dieser Tür, nur düstere Schemen, die sich als gläserne Leichen erwiesen, mit entsetzlichem Ordnungssinn Kopf an Fuß längs der Wände gestapelt. Im Tod leuchteten sie in keiner Farbe, und erst nachdem Luma ihre Cousine erkannt hatte, wussten sie, dass diese Toten zu ihnen gehörten. Die Whiteys hatten sich zurückgezogen, doch zuvor hatten sie noch ihre Gefangenen umgebracht. Die jungen Natriumiten blickten hinab auf ihre Schwestern und Cousinen und Tanten, auf die faltigen Brandwunden rund um die Löcher auf ihren Stirnen, durch die ihre Häscher das Wasser hatten hineintropfen lassen. In diesem Augenblick begriff Lek zum ersten Mal wirklich, was ihre Großmutter damit gemeint hatte, als sie ihr einschärfte, man dürfe kein Vertrauen haben in diese Whiteys oder Weißhells oder welchen Namen sie sich auch gaben. Sie waren bleiche, heimtückische Mörder.
Jetzt dachte sie an Filius, wie er vollkommen lachhaft an ihrem Laternenpfahl hing und versuchte, diesen Whitey zu schützen, der widerrechtlich dort eindringen wollte, und der Zorn brandete so jäh in ihr auf, dass sie erschrak und beinahe vom Dach gestürzt wäre. Nicht dass sie es nicht gewohnt war, wütend auf Filius zu sein – der Wunsch, ihm seinen dürren Hals umzudrehen, war eine der Grundlagen ihrer Freundschaft – , aber sie fühlte sich derart verglüht und ausgebrannt, dass es sie ein bisschen schockierte, wie viel Energie sie plötzlich aufbrachte, um sich über ihn zu ärgern.
Dennoch war nicht zu leugnen, dass sie den Drang, dem kleinen Gossenstrolch-Gott ein paar
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