Der Wolkenkratzerthron (German Edition)
gehörige Ohrfeigen zu verpassen, als tröstlich empfand. Er hatte sie vor ihren Schwestern blamiert, und so manche Laternentochter, die weniger stolz war als sie, hätte als Antwort darauf ein tödliches Taktmaß getanzt – na ja, zumindest würde sie ihm das weismachen.
Andererseits hatten derart gedankenlose Dinge bei ihm schon immer dazugehört. Filius und sie waren noch richtige Winzlinge gewesen, da hatte es eines Tages geregnet und er war schnurstracks hinausgerannt, sodass Leks Herzfunke fast erloschen wäre. Sie war fest davon überzeugt gewesen, das Wasser würde ihn töten, so wie es sie töten würde, und bei dem Gedanken daran war es ihr vorgekommen, als würde die Furcht sie in Stücke sprengen.
Es war die gleiche venenverdunkelnde, hautkühlende Angst, die sie jetzt überkam; Angst bei der Erinnerung an die Drahtmeisterin, die sich um das Fleisch ihres neuen Wirtes schlang und die Haut obszön durch die Lücken zwischen den Stahlsträngen quetschte, daran, wie sie die Finger des armen Mädchens gestreckt und sie gezwungen hatte zu fragen: Wo ist er?
Diese Kreatur hatte ihre Familie ausgelöscht. Jetzt wollte sie das Gleiche mit einem unbesonnenen, hoffnungslos naiven Jungen tun, der keinerlei Rhythmusgefühl besaß und stets einen halben Takt zu spät dran war. Ein Junge, der das einzige lebendige Wesen war, das ihr noch etwas bedeutete.
Ein paar Häuser weiter ragte eine leere Straßenlaterne über das Dächermeer. Der Glaskolben war eng und altmodisch, dennoch wand sich Elektra hinein. Obwohl ihre Haltung nicht gerade bequem war, spreizte sie ihre Finger und dann, ganz behutsam, schob sie ihre Felder allmählich nach außen. Sie dehnte ihren Magnetismus weiter und weiter aus, tastete mit ihm über die Flächen aus Backstein, Beton und Fensterglas, ließ ihn über die Lücken der Gassen und Türen und Schächte gleiten, bis er schließlich jede Einmündung in das Abrissfeld abdeckte, die sie zu erreichen vermochte. Ihre Muskeln summten. Sie wusste, dass sie nicht lange so hell würde glühen können. Schon bald würde aus dem Summen ein Schmerz werden, dann würde der Schmerz zu brennen beginnen, bis sie vor Erschöpfung Qualen litt, doch es war das Einzige, was zu tun ihr einfiel.
Die magnetische Decke, die sie über Reachs Königreich gebreitet hatte, war so dünn, dass ein Drahtwurm es nicht einmal spüren würde, wenn er sie durchstieß, aber Elektra würde die Kräuselung wahrnehmen, sobald irgendetwas das Feld verletzte. Sie würde wissen, wann und wo ihre Beute auftauchte.
Sie schloss kurz die Augen, als sich Müdigkeit in ihr ausbreitete. Irgendwo jenseits der niedrigen Trümmerlandschaft des Londoner Horizonts ging die Tagsleuchte auf, aber sie würde nicht schlafen, nicht solange die glitzernden Scherben ihrer Familie auf der Rückseite ihrer Lider warteten. Das Geschöpf, das ihre Schwestern in Stücke geschlagen hatte, würde erneut auf die Jagd gehen, würde früher oder später den Sohn der Straßen suchen.
Es würde bereit sein zu töten.
So wie sie.
Kapitel 21
Beth und Fil starrten auf ihre neuen Rekruten. Eine Hundertschaft wandelnder Leuchtkörper, fahrig und ungeordnet, starrte zurück.
Für den Bruchteil einer Sekunde erschrak der Straßenprinz vor ihrem Blick. Dann straffte er sich und ergriff seinen Speer.
»Victor, bleibst du noch ’ne Weile?«, fragte er. »Und hilfst uns beim Übersetzen?«
»Da.«
»Halten wir dich auch wirklich nicht von irgendwas Wichtigem ab?«, warf Beth ein. Inzwischen gefiel ihr der alte Russe.
Er grinste in seinen Bart, schälte sich aus seinem knittrigen Schlafsack und schlurfte mit seinem Schuh über die Pflastersteine, um eine Chipspackung aus dem Weg zu schieben. »Ich glaube, Hausarbeit kann warten paar Tage.«
Beth lachte, dann kam ihr plötzlich ein Gedanke. Sie durchstöberte ihren Rucksack nach der Taschenlampe und streckte sie Victor entgegen.
»Kannst du die benutzen, um mit denen zu sprechen?«, fragte sie. »In deren Sprache, meine ich?«
Victor schaltete ein paarmal das Licht an und aus, in einem seltsam synkopischen Rhythmus. Der am nächsten stehende Weißhell nickte und blitzte eine Antwort. Der Landstreicher spitzte die Lippen.
»Da« , sagte er.
Fil warf Beth einen verblüfften Blick zu. »Wie bist du denn darauf gekommen?«, fragte er.
»Ich – ich dachte einfach, wär doch ganz nett, na ja, wenn wir mit denen in ihrer eigenen Sprache reden, du weißt schon, irgendwie respektvoller.«
Er schenkte ihr ein
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