Der Wolkenpavillon
gar nicht auf den Gedanken, seinen Kindern Überraschungsgeschenke zu kaufen, wie er es sonst vielleicht getan hätte, er war viel zu sehr damit beschäftigt, seine Umgebung im Auge zu behalten. Jeder flüchtige Blick, den ein Fremder ihm zuwarf, jede noch so kleine Bewegung in den Augenwinkeln ließ seine Anspannung wachsen.
Und genau das wollte sein Feind erreichen, das wusste Hirata.
Der Verstand war die machtvollste Waffe eines Kriegers. War der Verstand stark und wach, konnte man auch Gegner besiegen, die über eine bessere Waffentechnik und schnellere Reflexe verfügten. Wer die mystischen Kampfkünste beherrschte, wie Hirata, konnte den Geist eines Gegners beeinflussen, indem er ihm Furcht einpflanzte und dadurch die Kampfkraft schwächte, sodass der Feind leicht zu besiegen war. Hirata hatte diese Technik schon häufig angewendet. Diesmal aber war er selbst das Ziel. Er spürte, wie sein Selbstvertrauen schwand, wie seine Entschlossenheit geschwächt wurde. Obwohl er normalerweise gern allein reiste, ließ er sich heute von den Ermittlern Inoue und Arai begleiten. Doch ihre Begleitung vermittelte ihm nicht das Gefühl von Sicherheit; sein Bedürfnis nach Schutz zeigte ihm vielmehr, wie verletzlich er war.
Hirata und seine Begleiter lenkten ihre Pferde auf die Edo-Straße, eine der Hauptstraßen der Stadt, die zur nördlichen Fernstraße führte. Zur Rechten, zwischen der Straße und dem Fluss, standen die Lagerhäuser, in denen die Reisvorräte des Shōgun aufbewahrt wurden. Auf der linken Straßenseite reihten sich Teehäuser, die von den fudasashi betrieben wurden, Kaufleuten, die den Reis des Shōgun auf Provisionsbasis an seine Gefolgsleute lieferten und den Überschuss aufkauften, um ihn dann mit Gewinn weiterzuverkaufen. Außerdem betätigten sie sich als Geldverleiher, was sie zu sehr wohlhabenden Männern machte.
Vor dem größten Teehaus stieg Hirata vom Pferd. Der Name des Teehauses, »Ogita«, war in eine unscheinbare Holztafel über der Tür eingeritzt. Drinnen riefen Männerstimmen Zahlen. Hirata und die Ermittler betraten einen großen Raum, in dem eine Versteigerung stattfand. Händler riefen ihre Gebote, wobei sie die Arme in die Höhe strecken und wild in Richtung des Podiums im hinteren Teil des Raumes winkten. Hirata musterte den Mann mitten auf dem Podium.
Ogita eilte unruhig auf und ab, rufend und schreiend, wobei er heftig gestikulierte wie ein Schauspieler in einem Kabuki-Theater. Er war von durchschnittlicher Größe, wirkte aber größer, weil er sich sehr gerade hielt. Sein brauner Kimono, der Übermantel und die Hose waren aus Baumwolle, weil die Luxusgesetze der Tokugawa es nur den Samurai erlaubten, Seidenkleidung zu tragen. Doch der schimmernde Stoff ließ erkennen, dass Ogitas Kleidung von bester Qualität war. Sein kahler Schädel und das lange, fleischige Gesicht glänzten vor Fett, eine Folge üppiger Mahlzeiten. In seinen ausgeprägten Schlitzaugen funkelten Intelligenz und Verschlagenheit, und seiner Aufmerksamkeit schien nichts zu entgehen. Sein Blick huschte ständig umher auf der Suche nach Bietern, die den Preis weiter in die Höhe trieben. Er war nicht dick, aber er hatte ein Doppelkinn, das seine Stimme zu verstärken schien wie ein Resonanzboden, als er die gebotenen Summen in den Raum zurückrief oder höhere Gebote einforderte. Ogitas Aura war energischer und kraftvoller als die aller anderen Anwesenden. Er beherrschte die Menge.
Normalerweise verstand Hirata sich gut darauf, in anderen Menschen zu lesen, doch die schlaflose Nacht, die hinter ihm lag, und die ständige Anspannung machten es ihm schwer, sich auf Ogita zu konzentrieren. Hirata erkannte, dass seine Ängste immer mehr seine Ermittlungen beeinträchtigten. Wie sollte er unter diesen Bedingungen Fortschritte machen?
Die Versteigerung war beendet. Die Bieter, die leer ausgegangen waren, verließen das Teehaus, um ihr Glück bei einer anderen Auktion zu versuchen. Ogita und die erfolgreichen Bieter besiegelten derweil ihre Geschäftsabschlüsse, indem sie von ihren Schreibern die Verträge ausfertigen ließen, um sie anschließend mit ihrem Siegel zu versehen. Diener schenkten Sake aus, wie der Brauch es vorschrieb. Als die Käufer den Raum verlassen hatten, bedeutete Hirata seinen beiden Ermittlern, an der Tür zu warten, während er selbst auf Ogita zutrat.
»Ich würde gern mit Euch reden«, sagte er, nachdem er sich vorgestellt hatte.
Ogitas Schlitzaugen weiteten sich vor Erstaunen.
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