Der Wolkenpavillon
sagte Sano, wenngleich Reiko ihm seine Enttäuschung ansehen konnte. »Wir schaffen es auch ohne sie.«
»Dann bin ich die einzige Zeugin?«, fragte Chiyo erschrocken.
Eine weitere Gruppe kam über die Brücke zum Tor. Es war Hirata, begleitet von einem Trupp Soldaten, die eine Sänfte bewachten. »Nein, Ihr seid nicht die Einzige«, sagte Reiko. »Da kommt noch ein Opfer des Vergewaltigers.«
Die Soldaten stiegen vom Pferd, öffneten die Tür der Sänfte und hoben Fumiko heraus. Ihr Kimono war schmutzig und zerrissen, und auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck mörderischer Wut.
»Sie hat sich gewehrt wie eine Wildkatze, deshalb mussten wir sie bändigen«, sagte Hirata. Fumikos Hände waren auf dem Rücken zusammengebunden, und auch ihre Fußgelenke waren gefesselt. Der Strick war allerdings lang genug, dass sie sich mit kleinen Schritten vorwärtsbewegen konnte. »Ich habe das wirklich nicht gern getan«, sagte Hirata, »aber sie wäre uns sonst davongerannt.«
Chiyo schnappte nach Luft. »Ist das das Mädchen, das entführt worden ist?«
»Ja. Sie heißt Fumiko«, antwortete Reiko und berichtete kurz und knapp, was Fumiko zugestoßen war.
»Das arme Ding.« Während Chiyo das Mädchen betrachtete, war der kummervolle Ausdruck in ihrem Gesicht gemildert von Mitgefühl.
»Worauf warten wir noch?«, wollte Major Kumazawa wissen. »Bringen wir es hinter uns.«
Sano blickte über die Brücke zum Ufer. »Wir bekommen Gesellschaft«, sagte er.
Reiko sah einen rundlichen, grauhaarigen Mann mit Doppelkinn, der auf Sano und Hirata zustapfte. Seine scharfen, wachen Augen und der grausame Zug um den Mund ließen einen an einen hungrigen Wolf denken. Der Mann wurde von drei riesigen tätowierten jungen Männern begleitet.
»Jirocho«, sagte Reiko.
»Wer ist dieser Jirocho?«, erkundigte sich Chiyo.
»Ein mächtiger Bandenführer. Außerdem ist er Fumikos Vater.«
»Papa!«, rief Fumiko.
Ihre Augen, die sonst so wild und kampfeslustig funkelten, strahlten vor Glück. Von dem Strick um ihre Fußknöchel behindert, ging sie mit stolpernden Schritten auf ihn zu und warf sich in seine Arme. Doch Jirocho stieß sie weg, als wäre sie eine Fremde, die im Gedränge gegen ihn geprallt war. Er schaute sie nicht einmal an.
»Papa!«, rief Fumiko mit erstickter Stimme.
Im Innern der Sänfte stiegen Chiyo Tränen des Mitleids in die Augen.
»Ehrenwerter Kammerherr. Sōsakan Hirata, ich grüße Euch«, sagte Jirocho und machte eine respektvolle, aber flüchtige Verbeugung. »Wie mir zu Ohren gekommen ist, habt Ihr die beiden Entführer verhaftet.«
»Niemand in Edo erfährt Neuigkeiten so schnell wie Ihr, das muss man Euch lassen«, sagte Hirata. »Aber die beiden Männer, um die es geht, wurden nur deshalb festgenommen, weil sie unter Tatverdacht stehen. Bewiesen ist noch gar nichts.«
»Was macht Ihr hier?«, wollte Sano von Jirocho wissen. Er gab sich ruhig und gelassen, doch Reiko spürte seinen Zorn auf diesen Mann, der so oft gegen das Gesetz verstoßen hatte und der die eigene Tochter nun für ein Verbrechen bestrafte, an dem sie nicht die geringste Schuld trug.
»Ich will die Verdächtigen sehen«, sagte Jirocho.
»Warum? Damit Ihr sie töten könnt?«
Jirocho antwortete nicht. Er kniff die Lippen zusammen, während seine Raubtieraugen funkelten. Seine Männer drängten sich um ihn wie ein Wolfsrudel um das Leittier.
»Haltet Euch aus der Sache heraus«, sagte Sano. »Wenn die Männer schuldig sind, werde ich dafür sorgen, dass sie ihre gerechte Strafe bekommen.«
»Vielleicht kann ich Euch dabei helfen, herauszufinden, ob sie die Tat begangen haben oder nicht«, beharrte Jirocho. »Vielleicht kenne ich sie ja. Vielleicht habe ich sie gesehen, wie sie sich mit meiner Tochter herumgetrieben haben.«
Sano zögerte. Reiko erkannte, dass er darüber nachdachte, ob der Bandenführer ihm von Nutzen sein könnte. Er hatte Reiko von der Weigerung der Gefangenen erzählt, die Verbrechen zu gestehen, und dass er, Sano, keine Beweise in der Hand hatte, ihnen eine Schuld nachzuweisen. »Also gut«, sagte Sano schließlich. »Ihr könnt mit uns kommen. Aber seid still und mischt Euch nicht ein!«
Er gab den Gefängniswärtern ein Zeichen, und sie öffneten das Tor. Dann gingen Sano und Hirata den anderen voraus in das düstere Gebäude. Als die Frauen aus ihrer Sänfte stiegen, beugte Chiyo sich zu Reiko hinüber und flüsterte: »Ich weiß nicht, ob ich das durchstehe.«
Reiko nahm Chiyos kalte, zitternde Finger in
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