Der Wolkenpavillon
versuchte, sich loszureißen, aber der Fremde hielt ihn mit eisernem Griff fest. Masahiro sah, dass der rōnin ein dunkles, unregelmäßig geformtes Mal am Handgelenk hatte.
»Ich wusste noch gar nicht, dass mein Vater Freunde hat, die so aussehen wie Ihr«, sagte Masahiro.
»Dein Vater hat alle möglichen Freunde, von denen du nichts weißt.« Falls diese Bemerkung Masahiro beruhigen sollte, verfehlte sie ihren Zweck.
»Wie habt Ihr mich erkannt?«, wollte Masahiro wissen.
»Ich habe dich beobachtet, wie du als Botenjunge verkleidet aus dem Palast geritten bist. Aber für einen Botenjungen bist du noch zu jung.« Der rōnin zupfte an Masahiros Stirnband. »Später bist du in die Rolle eines Bauerjungen geschlüpft. Du hast dabei allerdings den Fehler gemacht, weiterhin dasselbe schwarz-weiße Pony zu reiten. Also habe ich genauer hingeschaut. Und wer kam unter der Verkleidung zum Vorschein? Der Sohn von Kammerherr Sano.«
»Oh.« Masahiro war enttäuscht, dass seine Verkleidung nicht so gut gewesen war, wie er gedacht hatte.
Plötzlich fiel ihm auf, dass die Augenbrauen des rōnin bloß aufgemalt waren, wie bei Schauspielern in einem Kabuki-Stück. Außerdem hatte der rōnin eine schärfere Beobachtungsgabe als die meisten Menschen. Und er kannte seinen Namen.
Ein Gedanke durchzuckte Masahiro.
»Ihr seid der Mann, der gestern bei meinem Vater gewesen ist!«
»Ja.« Toda Ikkyu blickte erstaunt, verärgert und belustigt zugleich drein. »Du hast gelauscht!«
»Aber ich habe Euch nicht erkannt«, sagte Masahiro. »Ihr seht ganz anders aus.«
»Nun, das ist Sinn und Zweck einer Verkleidung.« Er lachte. »Du bist ein begabter Spitzel, deshalb will ich dir einen Rat unter Kollegen geben: Wenn du jemanden beobachtest, musst du immer damit rechnen, dass auch du selbst beobachtet wirst.«
Toda hatte gesehen, wie er Yanagisawa gefolgt war. Nun kam Masahiro sich vor wie ein Dummkopf, weil er sich für unsichtbar gehalten und nicht bemerkt hatte, dass er seinerseits von Toda beobachtet worden war. In Zukunft musste er vorsichtiger sein.
Jetzt aber galt es erst einmal, Yanagisawa und seinen Sohn nicht aus den Augen zu verlieren.
»Entschuldigt mich bitte«, sagte Masahiro. »Ich muss gehen.«
Toda hielt ihn immer noch fest. »Oh nein, das wirst du nicht!«
»Aber wir verlieren Yanagisawas Fährte!«
»Was soll das heißen, ›wir‹?« Toda lachte belustigt auf. »Ich bin der Spitzel. Und du bist bloß ein Kind. Ich bringe dich nach Hause.«
»Aber Yanagisawa ...«
»Kein Aber«, sagte Toda entschieden. »Und vergiss Yanagisawa. Wenn ich dich noch länger Spion spielen lasse und dir passiert etwas, bringt dein Vater mich um. So, und jetzt komm!«
21.
Am Nachmittag ritt Sano noch einmal zum Gefängnis von Edo, diesmal begleitet von Reiko und seiner Cousine Chiyo. Als Sano und die anderen über die Brücke ritten, die den Kanal vor dem Gefängnis überspannte, folgten die Frauen ihm in einer Sänfte. Major Kumazawa hatte darauf bestanden, ebenfalls mitzukommen, und so bildete er mit seinen Soldaten und mit Sanos Trupp den Schluss. Vor dem Tor kamen Sano und sein Tross zum Stehen.
Aus dem Innern der Sänfte erklang Chiyos Stimme. »Ich habe Angst.«
»Euch wird nichts geschehen«, besänftigte Reiko sie.
Dennoch machte sie sich Sorgen um Chiyo, die noch schwächer und zerbrechlicher aussah als gestern. Die Schatten unter ihren Augen waren sogar durch die weiße Schminke hindurch zu sehen, und wenn sie sprach, bebte ihre Stimme. Ihr Körper unter ihrem braunen Seidenkimono war ausgemergelt und gebeugt wie der einer alten Frau. Sie war über Nacht um Jahre gealtert. Sie tat Reiko schrecklich leid. Konnte es für eine Frau etwas Schlimmeres geben, als entführt und vergewaltigt zu werden und obendrein auch noch den Ehemann und die Kinder zu verlieren? Sie hatte Angst, dass das, worum Sano Chiyo gebeten hatte, alles noch schlimmer machen würde, auch wenn Chiyo sofort eingewilligt hatte mitzumachen.
Reiko hörte Hufgetrappel auf der Brücke, blickte aus dem Fenster der Sänfte und sah, wie die Ermittler Marume und Fukida zu Sano ritten.
»Wo ist die Nonne?«, fragte Sano.
»Sie wollte nicht mitkommen«, antwortete Fukida. »Als wir versucht haben, sie aus dem Kloster zu bringen, wurde sie ganz unruhig.«
»›Unruhig‹ ist noch milde ausgedrückt«, sagte Marume. »Sie hat geschrien und um sich geschlagen. Da haben wir uns gedacht, wir lassen sie lieber da, wo sie ist.«
»Das habt ihr richtig gemacht«,
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