Der Wolkenpavillon
Wissenschaften zu praktizieren konnte Sano in größte Schwierigkeiten bringen.
»Ich brauche wieder einmal Eure Hilfe bei einer Ermittlung«, sagte Sano und zeigte auf die Trage, auf der, unter einer Decke verborgen, die Leiche lag.
»Ich stehe Euch gerne zu Diensten«, entgegnete Dr. Ito und musterte Sanos schäbige Kleidung. »So also habt Ihr es diesmal geschafft hierherzukommen. Als gemeiner Verbrecher verkleidet.« Erheiterung spiegelte sich auf Itos faltigem Gesicht. »Euer Einfallsreichtum ist bewundernswert. Ich hoffe, Ihr habt unterwegs nicht allzu viel abbekommen.«
Dr. Itos Bemerkung bezog sich auf eine unschöne Gewohnheit der Einwohner Edos, die sich einen Spaß daraus machten, Verbrecher, die zum Gefängnis gekarrt wurden, mit Steinen zu bewerfen.
»Was das angeht, hatte ich Glück«, sagte Sano.
»Offenbar sind wieder einmal Zeiten angebrochen, die außergewöhnliche Maßnahmen erfordern«, meinte Dr. Ito.
»So ist es«, antwortete Sano. »Nachdem ein alter Freund von mir in die Regierung zurückgekehrt ist, wie Ihr wisst.«
Seit Yanagisawa wieder dem bakufu angehörte, hatte Sano sehr genau darauf geachtet, keine Angriffsfläche zu bieten, weder durch sein Verhalten noch durch Äußerungen noch durch irgendwelche Maßnahmen. Er wusste, dass Yanagisawa nur darauf wartete, dass er einen Fehler machte.
»Yanagisawas Spitzel werden sich fragen, wohin ich verschwunden bin, und nach mir suchen«, sagte Sano. »Wir sollten lieber anfangen.«
»Ihr habt recht.«
Dr. Ito führte Sano ins Innere der Leichenhalle. Die Fenster waren geöffnet, um frische Luft hereinzulassen, dennoch stank es nach Blut und nach verwesendem Fleisch. Sano begrüßte Mura, Dr. Itos Helfer, der damit beschäftigt war, die steinernen Tröge zu reinigen, in denen die Leichen gewaschen wurden. Mura war ein grauhaariger Mann in den Fünfzigern mit einem breiten Gesicht, auf dem sich wache Intelligenz spiegelte. Er war ein eta und gehörte der untersten Gesellschaftsschicht an, in der Berufe weitervererbt wurden, die mit Tod und mit Sterben zu tun hatten, etwa die Berufe des Metzgers, Gerbers und Henkers. Da die eta aus diesem Grund als spirituell verunreinigt galten, wurden sie von anderen Bürgern gemieden. Doch Dr. Ito und Mura waren über alle Klassenschranken hinweg Freunde geworden. Mura erledigte den größten Teil der körperlichen Arbeiten, die mit Dr. Itos Untersuchungen zu tun hatten. Nun stellte der schweigsame Mura sich abwartend neben Tengu-ins Leiche, die, mit einem grauen Laken bedeckt, bereits auf einem der hüfthohen Untersuchungstische lag.
»Nimm das Laken von der Toten«, wies Dr. Ito seinen Gehilfen an.
Mura tat wie geheißen, sodass Tengu-ins auf dem Rücken liegende Leiche sichtbar wurde. In Sanos Augen sah sie seltsam geschrumpft aus, nicht mehr menschlich, nur noch ein Trugbild ihrer selbst.
»Eine Nonne?«, fragte Dr. Ito und blickte auf den Leinenumhang, den die Tote trug.
»Ja, aus dem Keiaiji-Kloster«, entgegnete Sano. Dann berichtete er von den drei Entführungs- und Vergewaltigungsfällen.
Dr. Ito trat näher an die Tote heran, beugte sich hinunter, nahm den Hals genauer in Augenschein und betrachtete die rot und violett verfärbten Male, die die Lederschnur hinterlassen hatte. »Sieht so aus, als hätte sie sich erhängt.« Er betrachtete die tiefen runden Druckstellen, die sich in regelmäßigen Abständen um den Einschnitt herumzogen. »Allem Anschein nach mit einem Rosenkranz. Am Hals sind keine Fingerabdrücke zu sehen, und an den Händen sind keine Wunden, die darauf hindeuten würden, dass die Frau sich gegen einen Angreifer gewehrt hat. Ich würde sagen, wir haben es hier mit einem Selbstmord zu tun.«
»Genau das vermute ich auch«, sagte Sano.
»Warum nehmt Ihr dann das Risiko auf Euch, zu mir zu kommen? Warum wollt Ihr, dass ich die Tote untersuche?«
»Weil es mir und meiner Gemahlin nicht gelungen ist, dieser Frau Informationen über ihren Entführer zu entlocken. Sie war so verzweifelt, dass sie es uns nicht sagen konnte. Aber vielleicht kann ihr Körper uns etwas verraten.«
»Sehr unwahrscheinlich«, murmelte Ito. »Seit der Entführung ist zu viel Zeit vergangen. Aber wir können es ja versuchen.«
»Schneidet ihren Körper bitte nur auf, wenn es gar nicht anders geht«, bat Sano. Er wollte sich keinen peinlichen Fragen darüber stellen müssen, was in der Leichenhalle mit Tengu-in geschehen war, wenn er ihren Leichnam zurück ins Kloster brachte.
»Dann wollen wir
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