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Der Wolkenpavillon

Der Wolkenpavillon

Titel: Der Wolkenpavillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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hoffen, dass eine oberflächliche Untersuchung genügt«, erwiderte Dr. Ito. »Mura -san , entkleide die Tote.«
    Mura ergriff ein Messer, schlitzte den Umhang der Nonne vorsichtig auf und schlug das grobe Leinen zu beiden Seiten zurück. Tengu-ins nackter Körper sah aus wie ein Skelett, das mit durchscheinender weißer Haut bespannt war, die niemals die Sonne gesehen hatte. Sano konnte jede einzelne Rippe sehen, jedes Gelenk, jede Unreinheit der Haut, unter der das Flechtwerk der dünnen blauen Äderchen hindurchschimmerte. Die Brüste waren klein und flach, die Magengrube eine tiefe Höhlung, das Schamhaar grau und struppig.
    Aber nirgends waren Anzeichen von Gewalteinwirkung zu sehen, auch nicht, als Mura den Körper auf den Bauch drehte. »Was immer der Entführer mit ihr gemacht hat«, sagte Dr. Ito, »Spuren hat er keine hinterlassen.«
    Sano war enttäuscht. Stumm entschuldigte er sich bei Tengu-in dafür, dass er sie überflüssigerweise dieser entwürdigenden Prozedur unterzogen hatte.
    Mura drehte den Leichnam wieder auf den Rücken. Plötzlich wurde Dr. Itos Blick, der noch immer auf der Toten ruhte, schärfer. »Warte mal, Mura -san «, sagte er. »Vielleicht ist da doch etwas ...«
    Sano schöpfte neue Hoffnung. »Was habt Ihr entdeckt?«
    »Spreize ihre Beine, Mura -san«, sagte der Arzt.
    Der eta gehorchte, auch wenn es ihm einige Mühe bereitete, denn die Leichenstarre hatte bereits eingesetzt.
    Dr. Ito tat näher an die Tote heran und wies zwischen ihre Beine. »Seht Euch das an«, sagt er. »Seht Ihr die Bläschen und die Rötungen? Die Frau litt an einer Geschlechtskrankheit, die besonders unter Prostituierten verbreitet ist. Diese Krankheit wird beim Geschlechtsverkehr übertragen. Deshalb ist bei Nonnen üblicherweise nicht damit zu rechnen.«
    Von Nonnen wurde erwartet, dass sie ein enthaltsames Leben führten, und Tengu-in war allen Schilderungen zufolge eine tugendhafte Frau gewesen. »Aber wie ...«, begann Sano, bis ihm plötzlich die Erklärung einfiel. »Dann muss der Vergewaltiger sie angesteckt haben. Demnach muss auch er selbst an dieser Krankheit leiden.«
    »Das ist die logische Schlussfolgerung«, sagte Dr. Ito. »Offenbar war es doch nicht ganz nutzlos, die Tote hierher zu bringen. Immerhin habt Ihr jetzt eine wichtige neue Information über den Täter.«
    »Ja, und dafür danke ich Euch«, entgegnete Sano, dem bewusst war, dass diese neue Erkenntnis von großer Tragweite sein konnte. »Dann hat der Täter möglicherweise auch seine anderen Opfer angesteckt?«
    »Wenn es in sämtlichen Fällen ein und derselbe Mann gewesen ist, ja«, antwortete Dr. Ito.
    Sano dachte an Chiyo und Fumiko. Würden auch sie diese Krankheit bekommen? Beinahe hoffte er, dass es drei verschiedene Vergewaltiger gab, auch wenn das die Ermittlungen sehr erschweren würde. »Ist die Krankheit heilbar?«, fragte er.
    »Manchmal ja, mit der richtigen Medizin«, antwortete Dr. Ito und fügte widerstrebend hinzu: »Manchmal aber auch nicht.«

25.

    Als Sano in den Palast zurückkehrte, sagte einer der Torwächter zu ihm: »Sōsakan Hirata hat eine Nachricht für Euch hinterlassen, ehrenwerter Kammerherr. Er hat wichtige Neuigkeiten und bittet Euch, zu ihm auf sein Anwesen zu kommen.«
    In der Hoffnung, dass diese Neuigkeiten sich als erfreulicher erwiesen als das, was er selbst an diesem Tag herausgefunden hatte, begab Sano sich in das Wohnviertel der Beamten auf dem Palastgelände. In diesem Viertel waren die obersten Gefolgsleute des Shōgun und die höchsten Beamten der Militärregierung zu Hause. Sie lebten in Villen, die von weiß verputzten Kasernengebäuden umschlossen wurden, deren Wände mit geometrisch gemusterten schwarzen Kacheln verziert waren.
    Sano schwang sich vor dem Anwesen aus dem Sattel, das früher ihm gehört hatte, bevor er zum Kammerherrn ernannt worden war und Hirata seinen Rang als sōsakan-sama, als oberster Ermittler von Personen, Ereignissen und Gegebenheiten, übernommen hatte. Hiratas Torwächter führten Sano durch das innere Tor in den Hof der Villa. Sano besuchte Hirata so oft, dass ihn nur selten ein Gefühl der Wehmut überkam, wenn er die altvertraute Umgebung sah.
    Sano betrat die Empfangshalle, in der kurz darauf Hirata in Begleitung zweier junger Samurai erschien, kräftige, hochgewachsene Vertreter der Kriegerkaste mit klugem Gesicht und wachen Augen. Aber sie blickten äußerst unglücklich drein.
    Hirata stellte die beiden als Kurita und Konoe vor und fügte hinzu:

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