Der Wolkenpavillon
Unruhig ging sie auf und ab, sodass Leutnant Tanuma Mühe hatte, den Regenschirm über sie zu halten.
»Was ist geschehen?«, fragte Sano, als er und seine Männer vom Pferd stiegen.
»Tengu-in hat sich erhängt.« Reiko kämpfte gegen die Tränen. »Ich habe sie gefunden.«
Sano schüttelte den Kopf, während seine Leute fassungslos dreinschauten. War die Nonne durch die Entführung und die Vergewaltigung so verstört, dass sie sich aus Verzweiflung das Leben genommen hatte? Sano war außerdem bestürzt, dass Reiko als Erste am Ort des Geschehens gewesen war.
»Was wolltest du eigentlich hier?«, fragte er.
»Ich hatte gehofft, dass Tengu-in mir mehr über den Entführer erzählen kann«, antwortete sie bekümmert. »Und was finde ich? Ihre Leiche.«
»Sehen wir uns die Sache an.« Sano und die anderen betraten das Kloster. »Wo ist die Leiche?«, wollte er von Reiko wissen.
»Noch immer dort, wo ich sie entdeckt habe. Ich habe allen gesagt, sie sollen nichts anfassen und alles so lassen, wie es ist.«
Sano nickte. Zumindest wäre der Schauplatz des Selbstmordes unverändert.
Die Äbtissin, die Novizin, mit der Sano bei seinem ersten Besuch gesprochen hatte, sowie mehrere Nonnen standen im Flur vor dem Schlafsaal. Die Novizin lag schluchzend in den Armen der Äbtissin. »Ich habe Tengu-in nur einen Augenblick allein gelassen«, sagte das Mädchen weinend. »Nie hätte ich gedacht, dass so etwas passieren könnte!«
Die Äbtissin gebot ihr, still zu sein, während sie und die anderen Platz machten, um Sano und seine Leute durchzulassen. Sie betraten den Schlafsaal und versammelten sich um Tengu-ins von der Decke hängenden Leichnam. Sano stieß scharf den Atem aus, als er den schlaffen Körper und das gedunsene, von Fliegen umschwirrte Gesicht der Toten betrachtete.
»War das wirklich Selbstmord?«, fragte Marume.
Genau diese Frage hatte auch Sano sich soeben gestellt. Er ließ den Blick durch den Schlafsaal wandern. »Es sieht so aus, als hätte sie den Tisch unter den Dachsparren geschoben. Aber sie scheint nicht an den Balken herangekommen zu sein, weil der Tisch zu niedrig war.«
Hirata nickte. »Also hat sie den Weidenkorb geholt, hat ihn auf den Tisch gestellt und ist draufgestiegen.«
»Seltsam«, meinte Reiko. »So viel Kraft hätte ich ihr gar nicht zugetraut.«
»Der Wille zu sterben kann stärker sein als der Wille zu leben«, warf Hirata ein.
»Der Rosenkranz gehört ihr.« Sano blickte auf die Lederschnur, die am Balken befestigt war und um den Hals der Toten lag. Die braunen Jadeperlen hatten sich tief ins Fleisch gedrückt, sodass der heilige Gegenstand entweiht war. »Ich habe sie mit diesem Rosenkranz beten sehen, als ich das erste Mal hier im Kloster war.« Sano stellte sich vor, wie die alte Frau sich abgemüht hatte, die Schnur am Dachsparren festzubinden und sie sich dann um den Hals zu legen.
Hirata fuhr fort: »Dann hat sie den Weidenkorb unter sich weggetreten und ...«
Er brauchte nicht weiterzusprechen. Alle konnten sich vorstellen, wie der Korb auf den Boden gefallen war, wie der Balken unter dem plötzlichen Gewicht des Körpers geknarrt hatte, wie das Genick der alten Frau gebrochen war wie ein trockener Ast und wie ihre Leiche dann in gespenstischer Lautlosigkeit hin und her gependelt war.
Sano blickte zum Bett. »Es gibt keine Anzeichen von Gewalteinwirkung.«
»Ich habe die Äbtissin, die Novizinnen und die Nonnen gefragt, ob sie hier im Kloster jemanden gesehen haben, der nicht hierher gehört«, warf Reiko ein. »Niemand hat eine fremde Person gesehen. Und die Nonnen und Novizinnen haben Tengu-in ganz bestimmt nicht umgebracht.«
»Dann war es Selbstmord«, schloss Sano.
Er hatte die Möglichkeit erwogen, dass die alte Frau von ihrem Entführer getötet worden war. Auf diese Weise hätte der Täter ein für alle Mal verhindert, dass Tengu-in Hinweise auf seine Identität geben konnte. Doch ob Mord oder Selbstmord: Der Entführer hatte die alte Nonne so oder so auf dem Gewissen. Der Schmerz, den er Tengu-in zugefügt hatte, hatte sie in den Tod getrieben.
»Hier geht es jetzt nicht mehr um Entführung und Vergewaltigung«, stieß Sano zornig hervor. »Hier geht es um Mord.«
Hirata, Reiko und die Ermittler nickten mit ernster Miene. Allen war klar, dass die Nachforschungen zusätzliches Gewicht bekommen hatten. Sano dachte an Chiyo und Fumiko, die noch immer unter den Folgen des Verbrechens litten. Würden auch sie Selbstmord begehen?
Er betrachtete die Leiche
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