Der Wolkenpavillon
sie erstaunt fest, dass sie hungrig war, trotz der schrecklichen Ereignisse an diesem Morgen. Fumiko schlang den Imbiss gierig hinunter. Chiyo lächelte nachsichtig, blickte Reiko an und sagte: »Sie hat immer Hunger.«
»Umso besser, dass sie bei Euch ist«, entgegnete Reiko, die sich vorstellen konnte, dass Fumiko nach dem entbehrungsreichen Leben auf der Straße völlig ausgehungert sein musste.
»Es tut mir gut, mich um das Mädchen zu kümmern«, sagte Chiyo, deren Augen trotz des Lächelns noch immer voller Traurigkeit waren. Reiko wusste, dass Chiyo auf ihre Kinder anspielte, die sie schmerzlich vermisste. »Was führt Euch zu uns?«, wollte sie dann wissen. »Gibt es Neuigkeiten?«
»Ja, nur ist es leider nichts Erfreuliches«, entgegnete Reiko und erzählte Chiyo vom Selbstmord der Nonne.
Chiyo schlug entsetzt die Hand vor den Mund. »Die arme Frau! Ich werde für ihre Seele beten.«
Fumiko schien sich nichts darum zu scheren. Sie aß den letzten Bissen Kuchen und wollte sich mit dem Ärmel den Mund abwischen, doch Chiyo hielt ihre Hand fest und reichte ihr eine Serviette. Fumiko verzog das Gesicht, benutzte die Serviette dann aber und faltete sie sorgfältig zusammen. Reiko freute sich, dass Chiyo sich bemühte, dem Mädchen gute Manieren beizubringen. Angesichts der ungewissen Zukunft Fumikos konnte das nicht schaden.
»Gibt es sonst noch etwas Neues?«, fragte Chiyo.
Reiko konnte spüren, wie gerne Chiyo gehört hätte, dass der Entführer gefasst worden sei und dass das Leben wieder halbwegs zur Normalität zurückkehrte, aber sie musste Chiyo enttäuschen. »Mein Gemahl geht einer neuen Spur nach«, antwortete Reiko ausweichend. Chiyo durfte nicht erfahren, was Sano in der Leichenhalle von Edo tat; nicht einmal seine eigene Familie durfte davon wissen. »Vielleicht ergeben sich aus Tengu-ins Tod neue Hinweise.«
Vor dem Haus waren Männerstimmen und schwere Schritte zu hören. Fumiko verharrte angespannt und spitzte die Ohren. »Das ist mein Vater!«
Sie sprang auf und huschte aus dem Zimmer.
»Was hat Jirocho denn hier zu suchen?«, fragte Reiko, als sie und Chiyo dem Mädchen folgten.
Sie gingen in Richtung des Empfangsgemachs, aus dem die Stimmen Jirochos und Major Kumazawas zu ihnen drangen. Fumiko machte Anstalten, zu ihrem Vater zu rennen, doch Chiyo hielt sie fest und bedeutete ihr, still zu sein. Vorsichtig spähten die beiden Frauen und das Mädchen um die Flurecke durch die geöffnete Tür. Major Kumazawa kniete auf dem Podest, während Jirocho und seine Leibwächter vor ihm auf dem Fußboden saßen. Rasch traten Reiko, Chiyo und Fumiko zurück, um nicht gesehen zu werden, und drückten das Ohr an die papierbespannte Holzgitterwand, um das Gespräch mitzuhören.
»Warum kommt Ihr zu mir?«, fragte Kumazawa in unfreundlichem Tonfall.
»Weil wir gemeinsame Interessen haben«, antwortete Jirocho, den Kumazawas kühler Empfang unbeeindruckt ließ.
»Und welche Interessen wären das?«
»Unser beider Familien wurden gedemütigt.«
»Reiner Zufall. Das bedeutet noch lange nicht, dass Ihr und ich etwas gemeinsam haben.«
»Darum geht es nicht«, entgegnete Jirocho. »Es geht darum, dass es weder Euch noch mir gefällt, wie Kammerherr Sano seine Ermittlungen führt.«
»Das macht uns noch lange nicht zu Kameraden.« Sarkasmus lag in Kumazawas Stimme. »Kommt endlich zur Sache! Was wollt Ihr?«
»Ich bin gekommen, um Euch einen Vorschlag zu machen«, erwiderte Jirocho. »Wir bündeln unsere Kräfte und machen selbst Jagd auf den Vergewaltiger.«
Ein kurzes Schweigen trat ein, und Reiko konnte spüren, wie überrascht Major Kumazawa war. Schließlich sagte er: »Ich lasse meine Leute bereits nach dem Täter suchen. Warum sollte ich mich mit Euch zusammentun?«
»Weil es Euch bisher nicht gelungen ist, diesen Bastard zu erwischen«, erwiderte Jirocho.
»Euch auch nicht«, gab Kumazawa zurück.
»Das stimmt«, räumte der Bandenführer ein. »Ich habe nicht genug Männer, um in der ganzen Stadt suchen zu lassen - genau wie Ihr. Aber wenn wir unsere Truppen vereinen, könnten wir ein doppelt so großes Gebiet absuchen und laufen obendrein nicht Gefahr, dass eine bestimmte Gegend zweimal durchsucht wird, weil der eine nichts vom anderen weiß.«
Reiko erschauerte bei dem Gedanken, dass Jirochos Banditen und Kumazawas Soldaten wie eine Söldnertruppe durch die Straßen zogen, lärmend und randalierend, eher auf einem Rachefeldzug als auf der Suche nach der Wahrheit, ganz abgesehen
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