Der Wolkenpavillon
ein letztes Mal, dann wies er Marume und Fukida an: »Holt sie herunter!«
Marume sprang auf den Tisch. Zögernd hob er den Körper der Toten ein Stück an, während Fukida sein Schwert zog und die lederne Kordel des Rosenkranzes durchschnitt. Die Jadeperlen prasselten auf den Boden. Marume hob die Tote herunter, legte sie aufs Bett und zog die Decke über den Leichnam.
Die Äbtissin kam in den Schlafsaal. »Dürfen wir Tengu-in jetzt für die Beisetzung vorbereiten?«
Ihr Gesicht war so von Kummer gezeichnet, dass es Sano schmerzte, ihr diese Bitte abschlagen zu müssen. »Noch nicht«, sagte er. »Erst muss ich sie in die Leichenhalle bringen lassen.«
»In die Leichenhalle?« Erstaunt zog die Äbtissin ihre aufgemalten Augenbrauen hoch. »Muss das wirklich sein?« In ihrer Stimme schwangen Abscheu und Empörung angesichts der Vorstellung mit, Sano könnte eine Dame von Tengu-ins Rang und Ansehen an einen Ort bringen lassen, der für die Leichen gemeiner Bürger vorgesehen war.
»Sie war das Opfer eines Verbrechens, deshalb bleibt mir keine Wahl«, entgegnete Sano. »Das Gesetz schreibt es so vor.«
Den wahren Grund konnte Sano der Äbtissin indes nicht nennen - ebenso wenig, wie sie sich Sanos Wunsch verweigern konnte. Missbilligend kniff sie die Lippen zusammen, nickte dann aber. »Wenn den Vorschriften Genüge getan ist, schickt Ihr Tengu-in dann hierher zurück, damit sie ein würdiges Begräbnis bekommen kann?«
»Ja«, sagte Sano, obwohl er nicht wusste, ob er dieses Versprechen einhalten konnte.
*
Angemietete Lastenträger brachten die tote Nonne auf einer Trage zur städtischen Leichenhalle, die sich im Gefängnis von Edo befand.
Sano ritt derweil zum Haus seines Schwiegervaters im Beamtenviertel unweit des Palasthügels, nachdem er Reiko nach Hause geschickt hatte. Dort tauschte er seine Seidengewänder gegen die schlichte Baumwollkleidung, die er dort verwahrte für den Fall, dass er unerkannt reisen musste so wie jetzt, denn Sano hatte die Absicht, in der Leichenhalle mit einem alten Freund zu reden, mit dem ihm jeder Kontakt untersagt war. Er stieg auf einen Ochsenkarren, mit dem drei verurteilte Verbrecher zum Gefängnis gebracht wurden. Eskortiert von vertrauenswürdigen Soldaten, die in Diensten seines Schwiegervaters standen, fuhr Sano schließlich durch das Gefängnistor und stieg auf dem Innenhof vom Karren.
Die Soldaten führten ihn vom Kerker zur Leichenhalle, einem niedrigen Gebäude mit verrottendem, fauligem Strohdach. Das feuchte Wetter hatte das Bauwerk mit einer schleimigen Schicht aus Schimmel und Flechten überzogen - ein Hauch von Leben an diesem Ort des Todes.
Sano traf gleichzeitig mit den Trägern, die Tengu-ins Leichnam brachten, am Ziel ein. Dr. Ito, der Aufseher der Leichenhalle, trat aus dem Gebäude. Er war ein hochgewachsener Mann in den Achtzigern, mit dichtem weißem Haar, hohen Wangenkochen und klugen Augen in einem schmalen, asketischen Gesicht. Er trug die traditionelle dunkelblaue Kleidung seines ärztlichen Berufsstandes. Die Träger brachten die Tote ins Innere des tristen Gebäudes und verschwanden, während die Soldaten draußen vor dem Gefängnis warteten, um Sano nach seinem Besuch in der Leichenhalle zurück zum Haus des Magistraten zu bringen. Als Dr. Ito den Besucher erkannte, hob er erstaunt die buschigen weißen Brauen.
»Sano -san ! Ehrlich gesagt hätte ich nie gedacht, dass ich Euch jemals wiedersehen würde.«
Es war mehr als ein Jahr vergangen, seit die beiden Männer sich das letzte Mal gesehen hatten. Dr. Ito war ein Verbrecher, ein ehemaliger Leibarzt der kaiserlichen Familie, der seinen Beruf, seinen hohen gesellschaftlichen Rang und seine Freiheit verloren hatte, nachdem er verbotene Bücher und wissenschaftliche Geräte von holländischen Händlern erworben und nach Edo geschmuggelt hatte, um medizinische Experimente vorzunehmen, die streng untersagt waren. Die übliche Strafe für ein solches Vergehen war die Verbannung; Dr. Ito jedoch war zu lebenslänglichem Dienst als Aufseher der städtischen Leichenhalle verurteilt worden. So hatte er Gelegenheit gehabt, seine Experimente und Studien an einem nie abreißenden Strom aus Leichen fortzuführen. Manchmal arbeiteten Dr. Ito und Sano zusammen, doch Sano musste sehr genau darauf achten, dass seine Freundschaft mit dem alten Arzt nicht bekannt wurde; nur eine Handvoll Vertraute wussten davon. Sich mit einem Verbrecher zusammenzutun und mit ihm gemeinsam verbotene ausländische
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