Der Wüstendoktor
Schläuche des Membranstethoskops in den Ohren.
Zustand unverändert. Flache Atmung. Herzrhythmus unregelmäßig. Es war, als kämpfe das Herz mit letzter verzweifelter Kraft gegen einen übermächtigen Würgegriff.
Der Wagen kreischte aus dem Tor, die Sirene heulte. Zemmitz hielt sich an dem blanken Gestänge der Trage fest und wurde hin und her geschleudert. Schneller – schneller – der Puls ist fast weg – es ist, als ob das Blut immer dicker wird und nicht mehr durch die Adern fließen kann …
Es war eine selbstmörderische Fahrt, aber sie erreichten die Klinik noch mit einem lebenden Hellersen. Zimmer 10 war geräumt, das Sauerstoffzelt aufgebaut, Assistenzarzt Dr. Bernhard hatte auf einem fahrbaren Medikamententisch alle notwendigen Injektionen vorbereitet. Die gefüllten Spritzen lagen steril abgedeckt bereit.
Das klappt, dachte Zemmitz selbstzufrieden. Ich habe Zug in meiner Bude. Für hundert Mark pro Tag kann man das verlangen. Die ›Wald-Klinik‹ ist teuer, aber hier sind die Kranken auch Könige!
Er zog die Jacke aus, warf sie in eine Ecke, half mit, Hellersen ins Bett zu wuchten, und bekam die erste Spritze angereicht. Das Plastikzelt fiel hinter ihm zu, aus den Düsen an der Wand und im Zeltgestänge blies der Sauerstoff. Auf der anderen Seite des Bettes wurden die Flaschen für eine Tropfinfusion an den chromglitzernden Galgen montiert.
Zemmitz legte die Spritze weg und sah Hellersen mit gesenktem Kopf an. Es ist aus, alter junge, dachte er. Davon erholst du dich nicht mehr. Sollte ein Wunder geschehen und du kommst wieder auf die Beine, dann wirst du ein bedauernswerter Invalide sein, der durch das Leben schleicht, von der Angst umkrallt vor dem großen letzten Schlag. Es gibt auch noch eine zweite Möglichkeit: Das Hirn wird nicht mehr genug durchblutet, die feinen Zellen leiden an Sauerstoffmangel, verkümmern, zersetzen sich – und du verblödest, ein lallendes, stammelndes menschenähnliches Etwas, ein Schlauch, der Essen schluckt, verdaut und ausscheidet. Wie's auch kommt, Bruno Hellersen, über die Schwelle des Lebens bist du bereits gerutscht …
Zemmitz kam aus dem Plastikzelt und schob den Medikamentenwagen zur Seite. Es war eine entmutigende Geste.
»Infaust –«, sagte er trocken. »Dr. Bernhard, bleiben Sie bei ihm und rufen Sie mich sofort, wenn eine Änderung des Zustandes eintritt. Ich versuche, Frau Hellersen zu erreichen –«
Aber das gelang nicht. Lediglich der Gärtner kam nach einer halben Stunde ans Telefon, er war gerade aus München zurückgekommen und stand noch unter dem Eindruck großer Ratlosigkeit.
»Ich werde die gnädige Frau sofort verständigen«, stotterte er. »Wenn sie auch in München ist, wird sie jeden Augenblick kommen. Ist – ist es schlimm mit dem gnädigen Herrn, Herr Doktor?«
Zemmitz legte ohne Antwort auf. Er fand es verschwenderisch, das Personal über die Krankheit des Dienstherrn aufzuklären.
Eine Stunde nach der Einlieferung. Und Bruno Hellersen lebte immer noch.
»Er hat die Konstitution eines Elefanten!« sagte Dr. Zemmitz. »Aber das nutzt ihm wenig. Jetzt nicht mehr. Seine Adern sind so dick mit Kalk ausgelegt, daß er einen Neubau allein beliefern kann.«
Niemand lachte, selbst Zemmitz diesmal nicht.
Es gab Witze, da lacht nicht einmal mehr der Tod –
Gegen einundzwanzig Uhr meldete die Pfortenschwester an den Chef, daß Frau Hellersen und ein Herr Dr. Vandura in der Halle warteten. Zemmitz, der nicht hinüber in seine Villa gegangen war, sondern in der Klinik blieb, um das Wunder Hellersen zu verfolgen, denn wider alle Prognosen hatte Bruno begonnen, tiefer zu atmen, und hatte sogar etwas Farbe bekommen, lag aber noch in tiefer Bewußtlosigkeit, zog die Augenbrauen hoch, nahm die Goldbrille ab, putzte sie umständlich und sagte erst dann: »Ich komme hinunter.«
Bevor er das Zimmer verließ, sah er kurz in den großen Standspiegel. Seine Eitelkeit war pathologisch. Wie ein Narziß konnte er sich im Spiegel betrachten und sich über sich selbst freuen. Früher, als Kind, war er ein unscheinbares Kerlchen gewesen. Dürrbeinig, verzogen, störrisch. Er hatte keine Freunde, in der Schule stand er abseits oder bekam Prügel, bis er entdeckte, daß man auffiel, wenn man dem Klassenlehrer die schwere Tasche mit den Heften in die Klasse trug, die Tafel putzte, auf dem Schulausflug fleißig Blumen sammelte und immer fragte: Herr Doktor, können Sie mir sagen, was für eine Blume … Das schmeichelte jedem Lehrer, er wurde der
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