Der Wüstendoktor
daß seine Krankheit unheilbar war. Sein Aufbäumen war nur eine Verzögerung. Zemmitz entschloß sich denn auch sofort, ihn rein symptomatisch zu behandeln, das Weiterleben, so gut es ging, zu erleichtern, aber sonst den Lauf des Schicksals nicht zu hemmen. Er sah auch gar keine Möglichkeit dazu. »Wenn man die Adern auskratzen könnte, so wie man Wasserstein aus dem Kessel holt«, sagte er zu seinen vier Assistenzärzten, denen er Hellersen als einen seltenen Fall vorführte, »würden die Menschen zweihundert Jahre alt. Dem Mann, dem es gelänge, die Kalkwände aufzulösen, ohne daß die Aderwände dabei beschädigt werden, wäre ein Retter der Menschheit.«
Einen Augenblick dachte er plötzlich an Dr. Vanduras Gastherapie und schob dann diesen ketzerischen Anflug seiner Gedanken wieder weg. Er tätschelte Hellersens Hand und bewegte den Zeigefinger, als Bruno sprechen wollte. »Ganz ruhig, mein Freund, ganz ruhig. Sprechen können wir später noch genug. Jetzt sorgen wir erst mal dafür, daß die Pumpe richtig 'rum läuft.«
Es war der alte joviale Chefarztton, die Wunderverkündigung eines Gottes in Weiß. Auf die Patienten wirkte diese Sicherheit heilungsfördernd. Nicht Pillen und Spritzen allein helfen einem Kranken, auch seine Seele will gestreichelt werden. Die richtige psychologische Behandlung eines Patienten spart Medikamente.
Gegen Mittag rief Katja an.
Die Nacht, die hinter ihr lag, war ein einziger Rausch gewesen. Sie hatte ihre Dankbarkeit gegenüber Vandura abgestattet … Aber nicht nur Dankbarkeit waren diese Stunden – echte Liebe, eine nie gekannte Leidenschaft, eine himmeleinreißende Hingabe wischte alles weg, was vorher, vor Vanduras Glut, gewesen war. Sie kannte sich selbst nicht mehr, entdeckte in sich einen neuen Menschen, und dieser Mensch bestand nur noch aus glühender Erfüllung ihrer Liebe.
Ein paarmal sagte sie schwer atmend: »Ich habe Angst – eine wahnsinnige Angst. Soviel Glück kann gar nicht bleiben –«
Und Vandura antwortete: »Wir müssen nur Geduld haben, Katja …«
Sie kuschelte den Kopf in seine Achselhöhle und fühlte sich geborgen wie ein Vögelchen im Nest. »Ob – ob er schon tot ist …«, fragte sie plötzlich. Vandura schwieg. Er legte ihr die Hand über den Mund und starrte an die Decke. Der Widerschein der Straßenbeleuchtung zauberte bizarre Schattenrisse auf die weiße Fläche.
Sie küßte seine Finger, legte den Arm um ihn und sagte mit einer tiefen Müdigkeit: »Eine solche Nacht müßte doppelt so lang sein …«
Bilder, Fetzen der Vergangenheit flogen vorüber.
Die erste Liebe? War es wirklich Liebe gewesen? Der kleine, aber starke Fritz Schuberth, Nachbarsjunge, Maurerlehrling, mit einem ständigen Geruch nach Kalk, Zement und saurem Bier. Und sie war neugierig gewesen, die Schulkameradinnen erzählten soviel davon, kicherten und wisperten und hatten glänzende Augen, wenn sie von ihren Sonntagserlebnissen tuschelten. ›Das‹ mußte etwas ganz Besonderes sein, das Schönste überhaupt, wenn man den anderen glauben konnte. Und sie wehrte sich nicht gegen den starken Fritz an jenem Sonntag nach dem Tanzen in einem leeren Schuppen … Zuerst war es fürchterlich, aber dann entdeckte und genoß sie den Spaß daran. Aber Liebe?
Und wie war es bei Rudolf, Werner und Ekkehard? Erlebnisse, Genuß, nennen wir es Lebensfreude – aber das tiefe Gefühl, das sie jetzt bei Vandura völlig einhüllte, war ihr immer unbekannt geblieben. Alles war immer nur Neugier geblieben, später Freude am erotischen Spiel, Triumph über die Macht ihres Körpers, Siegesrausch … Ja, sie hatte Bruno Hellersen belogen, als er sie heiratete. Sie hatte ihm die Reine, Unschuldige vorgespielt und sich in der Hochzeitsnacht benommen wie eine Zerbrochene. Er hatte es geglaubt und kam sich als einsamer Sieger vor. Später glaubte sie es fast selbst, denn die Vergangenheit versank in dichten Nebeln.
Jetzt brach sie auf, jetzt, an der Schwelle eines neuen Lebens, das ihr wirkliches Leben werden sollte. Jetzt war Erinnerung wie das Abstreifen einer alten Haut. Es war wie eine Neugeburt.
Der Anruf in der ›Wald-Klinik‹ erreichte Dr. Zemmitz gerade, als er ins Ärztekasino zum Mittagessen gehen wollte. Wie in großen Krankenhäusern, hatte Zemmitz auch bei sich ein Kasino eingerichtet, in dem er allein mit seinen vier Assistenten aß. Ein Pfleger servierte. Diese Einrichtung sollte nicht allein die Exklusivität des Hauses unterstreichen, sondern auch den Abstand Zemmitz'
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