Der Wüstendoktor
einem Riemen über den Rücken getragen hatte, herum und stellte sie auf den Boden. Gürzel schüttelte langsam den Kopf.
»Es hat doch keinen Zweck mehr, Doktor …«
»Himmel noch mal, fassen Sie an! Die Wand einzureißen, das geht schneller, als sie aufzurichten.« Er betrachtete die aufgetürmten Steine und dann den dicken Türken. »Das haben Sie allein geschafft?!«
»Sie wissen nicht, welche Kräfte einem der Haß gibt«, sagte Gürzel dunkel. Er warf seinen Rock ab und begann, die Steine wegzureißen. Vandura half ihm auf der anderen Seite. Er zog Rock und Hemd aus und arbeitete mit bloßem Oberkörper. Stein um Stein flog weg, bis Gürzel einen leisen Schrei ausstieß.
»Ich habe die obere Kante des Einganges frei«, sagte er schwer atmend.
Vandura krallte sich in die Steine und zog sich hoch. »Laila!« brüllte er durch den Spalt. »Laila, ich hole dich heraus! Gib Antwort … nur einen Laut … Laila, hörst du mich?«
»Umsonst …« sagte Gürzel.
»Ruhe!« schrie Vandura.
Sie lauschten, vielleicht eine Minute lang. Nur ein Zeichen, dachte Vandura, mein Gott, nur einen Hauch. Ein Kratzen, ein Bewegen … Vom Venustempel dröhnten Pauken und Blechbläser. Wenn Laila sich nur bewegte – der schwache Laut ging unter in Beethovens Sinfonie Nr. 6.
»Weiter …« Vandura schleuderte die Steine hinter sich. »Gürzel, wenn sie tot ist, übergeben ich Sie dem Staatsanwalt – oder ich bringe Sie hier um, hier auf der Stelle!«
»Dann tun Sie's gleich!« brüllte Gürzel und lehnte sich gegen die Mauer. »Sie lebt nicht mehr!«
Vandura arbeitete wie ein Irrer. Er wühlte sich durch die Steine und begriff nicht, wie ein Mann allein, wie dieser Kemal Gürzel, einen solchen Steinwall hatte errichten können. Ab und zu hielt er inne, holte tief Atem, wischte sich mit dem Hemd den Schweiß vom Oberkörper und betrachtete seine Hände. Sie waren rauh und rissig geworden, die Haut hatte sich an den schartigen Steinen abgeschabt, Blut sickerte durch den feinen mehlartigen Staub, und sie zitterten, zitterten vor Angst und dem Entsetzen, zu spät zu kommen.
Gürzel schleuderte die Steine weg wie eine Maschine. Er war ein menschlicher Bagger … So wie er die Steine aufgehäuft hatte, so trug er sie jetzt wieder ab, mit einem Gleichmaß der Bewegungen, die Vandura bestaunte. Man muß ein Orientale sein, um in allen Lebenslagen einen solchen Fatalismus zu entwickeln, dachte er. Er hat den Tod beschworen – Lailas Tod und jetzt seinen eigenen, denn ich werde ihn töten, bei Gott, wenn Laila in diesem schrecklichen Grab erstickt ist. Er weiß das, und da es keinen Ausweg mehr gibt, hat er sein Leben schon weggeworfen. Das Sterben ist jetzt nur noch ein technischer Akt. So wie man eine Maschine anhält …
Der Höhleneingang. Schwarz gähnend, zuerst nur ein Schlitz, dann so breit, daß man hineinblicken konnte.
Vandura zwängte den Kopf hindurch. An alles hatte er gedacht, nur nicht an eine Taschenlampe. Die Schwärze, aus der ihm dumpfer, feuchter Modergeruch entgegenwehte, war die Endgültigkeit eines Grabes.
»Laila!« rief Vandura, viel zu laut für den engen Raum. Seine Stimme brach sich an den Felswänden und prallte zu ihm zurück. »Laila …«
Schweigen. Finsternis. Grabeskälte.
»Töten Sie mich!« sagte Gürzel hinter Vandura. Er hatte einen großen, spitzen Stein in der Hand und hatte einen Augenblick gezögert, ob er ihn nicht Vandura über den Kopf schlagen sollte. Das hätte alle Probleme gelöst, und keiner würde jemals auf den Verdacht verfallen sein, daß der ehrbare Kemal Gürzel aus Istanbul ein zweifacher Töter sei. Töter, nicht Mörder. Mord ist etwas Verabscheuungswürdiges, einen Mörder sollte man ebenfalls töten, das war Gürzels Ansicht. Aber er hatte nur getötet, einmal aus Rache – das ist etwas Edles im Orient – und einmal aus Notwehr, das ist sogar eine gerechte Sache.
Aber Gürzel schlug nicht zu. Er ließ den Stein fallen und blickte Vandura aus fast kindlichen Augen an. Er spürte auf einmal eine grenzenlose Müdigkeit in sich, eine Sehnsucht, für immer nichts mehr zu sehen und zu hören.
»Weiter!« keuchte Vandura. »Ich kann noch nicht hineinkriechen. Weiter, Gürzel!«
Steine – Steine – Steine. Rissige Steine, Steine, an denen die Jahrtausende klebten – Steine, die sich vom Blut der aufgerissenen Hände färbten – Steine, von den Römern behauen, von Sklaven herbeigeschleppt, von Vasallen getürmt zu Tempeln, Säulen, Hallen, Häusern, Thermen und
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