Der Wüstendoktor
Straßen, Gärten und Verliesen, Brunnen und Terrassen – Steine, von den Seufzern der Geknechteten poliert – Steine, in denen die Stimme Lailas verklang –
»Luft … Gnade … Luft … Luft … Luft …«
»Als ich wegging, betete sie die Todessuren des Korans«, sagte Gürzel außer Atem. »Es … es war fürchterlich …«
Die letzten Steine – ein Eingangsschlitz, so breit, daß sich Vandura über den Mauerrest wälzen konnte. Er fiel auf etwas Weiches und wußte, daß es Laila war. Sie war bis nahe an die Mauer gekrochen, um aus möglichen Ritzen Luft zu saugen – ein paar Atemzüge nur, einen Hauch von Leben –, und sie hatte den Mund an die Steine gepreßt, bis die Bewußtlosigkeit sie aus ihrer Verzweiflung erlöste.
Vandura schob sich unter den schlaffen Körper und stemmte ihn empor. Oben an der Mauerkrone griff Gürzel zu, zog Laila ins Freie und trug sie zu einem Rasenstück. Vandura rannte mit der Tasche hinterher.
»Sie ist noch warm –« sagte Gürzel, als er sie niederlegte. »Aber sie atmet nicht mehr.«
Noch nie in seinem Leben hatte Vandura so schnell seine Instrumente ausgepackt. Er stülpte eine Plexiglasmaske über Lailas Gesicht und schloß die kleine Sauerstoff-Flasche an, dann zog er eine Spritze mit einem Kreislauf- und Herzstärkungsmittel auf und injizierte es in die Vene. Gürzel saß daneben, die Hände zwischen die Knie gepreßt, und starrte in die Nacht. Vom Venustempel klapperte das Klatschen von vielen Hunderten von Händen durch die plötzliche Stille. Die Pastorale war zu Ende. Pause im Sinfoniekonzert. Die Gäste strömten jetzt zum kalten Büfett, das zwischen riesigen korinthischen Säulen aufgebaut war. Ein Hymnus an die Göttin der Liebe, in dem sich der römische Baumeister Apollodorus verströmt hatte.
»Helfen Sie mir!« keuchte Vandura. Er begann mit einer Herzmassage. Lailas Brüste lagen bloß, unter denen jetzt die Hände Vanduras den Brustkorb auf- und niederdrückten. »Holen Sie Wasser. Kalte Umschläge, schnell.«
Die wahnwitzigen Gedanken durchjagten ihn. Mit einem Schock hole ich sie zurück … wie lange waren ihre Hirnzellen ohne Frischluft … wie hoch ist bereits der Kohlensäuregehalt des Blutes … mein Gott, sie wird nicht überleben, sie kann nicht überleben … was bedeutet so eine lächerlich kleine Flasche reiner Sauerstoff … auch wenn sie wieder atmet, es wird nur letztes Seufzen sein …
Gürzel stürzte davon. Woher er das Wasser brachte, Vandura fragte ihn nicht. Er war wie ein Tier, das jetzt, im kritischen Moment, instinktmäßig das Richtige tat.
Gürzel kam zurück mit einem klatschnassen Hemd. In den Händen trug er seine beiden Schuhe, gefüllt mit Wasser. Die Steine bohrten sich in seine Fußsohlen, er spürte es nicht. Er rannte um das Leben – das war das einzige, was er wußte.
»Gut«, sagte Vandura außer Atem. Er drückte noch immer Lailas Brustkorb auf und nieder. Leise zischend verflog der Sauerstoff innerhalb der Plexiglasmaske. »Machen Sie weiter!«
Kemal Gürzel hatte noch nie einen Menschen beatmet, und wenn er die Brust einer Frau berührte, so aus anderen Motiven als zur Lebensrettung. Er zögerte, schob dann seine Hände unter Lailas Brüste und begann zu pressen, wie er es von Vandura gesehen hatte. Er erschauerte, als er Lailas glatte, warme Haut berührte und seine Handrücken gegen ihre Brüste stießen.
»Lebt sie noch?« stammelte er und massierte und biß sich auf die dicke Unterlippe. Aus seinem buschigen Schnurrbart tropfte der Schweiß wie aus einem undichten Wasserhahn. »Bei Gott, sie lebt noch?«
Vandura klatschte das nasse Hemd über Lailas Oberkörper und schüttete das eiskalte Wasser aus Gürzels Schuhen über ihr Gesicht.
Der Schock. Reagieren die Nerven? Kann das Gehirn noch denken? Empfindet es noch?
Vandura fuhr herum. Hinter ihm hatte Gürzel aufgeschrien.
»Sie hat mit dem linken Bein gezuckt!« brüllte er. »Gezuckt hat sie.«
Vandura beugte sich über Laila. Mit dem Stethoskop suchte er nach Herztönen – und schwach, ganz schwach, wie hinter einer Mauer von Watte, vernahm er einen schüchternen Klopfton.
»Das Herz schlägt«, sagte er leise. »Gürzel, massieren Sie weiter. Um Gottes willen, werden Sie jetzt bloß nicht schlapp –«
Er injizierte noch ein Kreislaufmittel, stieß dann Gürzel weg und übernahm wieder selbst die Herzmassage. Gürzel rollte sich erschöpft auf den Rücken und faltete die Hände.
»Das Herz schlägt«, stammelte er und weinte
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