Der wundersame Fall des Uhrwerkmanns: Roman (German Edition)
Einzige, der nix will.« Mr Grub seufzte. »Auf Wiedersehen, Captain!«
»Guten Tag, Mr Grub.«
Burton lüpfte den Hut in die Richtung des Verkäufers und setzte den Weg fort.
Es war ein schöner Frühlingstag. Der Himmel präsentierte sich blau, und es herrschte Windstille. In der gesamten Stadt stiegen die Rauchsäulen kerzengerade auf, bevor sie sich in großer Höhe auflösten. Rotorstühle zogen Dampfstreifen hinter sich her, weiße Schraffuren, die ein unregelmäßiges Gitter am Himmel entstehen ließen. Auch Schwäne flogen zwischen den Säulen umher.
Der Agent des Königs marschierte mit zügigen Schritten voran, mitten durch das hektische Treiben der Straßen. Fliegende Händler brüllten, Dirnen schäkerten, Gassenkinder schrien, Kaufmänner lachten, zankten und feilschten, Straßenkünstler sangen, jonglierten und tanzten, Fußgänger schwangen ihre Stöcke und Sonnenschirme, nahmen ihre Hüte ab und rückten ihre Mützen zurecht, Pferdehufe klapperten, Velozipede zischten und tuckerten, Dampfrösser brummten und rumpelten, Kutschen ratterten, Räder schepperten über das Kopfsteinpflaster, Hunde kläfften. Ein wahres Konzert von Missklängen. Typisch London.
Burton sichtete ein vertrautes Gesicht.
»Hallo! Quips!«, rief er und schwenkte seinen Stock.
Oscar Wilde, neun Jahre alt, durch die endlose irische Hungersnot zum Waisen geworden, verdiente sich sein täglich Brot damit, Zeitungen zu verkaufen, und trieb sich gerade vor einem Süßwarenladen herum.
»Wunderschönen Morgen, Captain!« Quips lächelte, wodurch er schiefe Zähne entblößte. »Helfen Sie mir, mich zu entscheiden, ja? Gestreifte Bonbons oder Malzkonfekt? Ich neige eher zu Malzkonfekt.«
»Dann stimme ich dir zu, Junge.«
Oscar nahm den verbeulten Zylinder ab und kratzte sich am Kopf. »Tja, also, wenn mir die Leute zustimmen, hab ich immer das Gefühl, dass ich falsch liegen muss. Also werden es wohl doch besser die gestreiften Bonbons.« Er seufzte. »Oder vielleicht beides? Mir scheint, der einzige Weg, eine Versuchung loszuwerden, ist, ihr nachzugeben. Finden Sie nicht auch, Captain Burton?«
Der Entdecker kicherte. Der junge Oscar besaß ein bemerkenswertes Talent für Worte.
»Bist du flüssig, junger Freund?«
»Aye, bin ich. Meine Taschen sind schwer vor Münzen. Ich war innerhalb von weniger als einer Stunde ausverkauft. Anscheinend will heute Morgen jeder in London eine Zeitung. Haben Sie selbst schon einen Blick auf die Neuigkeiten geworfen, Sir?«
»Noch nicht. Ich hatte meine Nase in Büchern.«
»Dann müssen Sie die Ausnahme zur Bestätigung der Regel sein, denn in meinen Augen besteht der Unterschied zwischenLiteratur und Journalismus darin, dass Journalismus unlesbar ist und Literatur nicht gelesen wird.«
»Ich vermute mal, dass die Tichborne-Angelegenheit immer noch für Schlagzeilen sorgt, richtig?«
Ein naher Leierkastenspieler begann, etwas aus seiner schäbigen Maschine zu pressen, das entfernt an eine Melodie erinnerte. Oscar zuckte zusammen und erhob die Stimme. »Das können Sie aber laut sagen! Alle Gesellschaftsschichten reden darüber – von den hohen Herren bis hin zu gemeinen Tagedieben! Jeder hat eine Meinung dazu!«
»Wie ist der neueste Stand der Dinge?« Burton musste brüllen, um das unharmonische Ächzen, Quietschen, Heulen und Pfeifen zu übertönen.
»Der verlorene Sohn der Tichbornes ist in Paris eingetroffen, und seine Mutter hat ihn erkannt!«
»Sapperlot! Wirklich wahr?«
Die Tichborne-Angelegenheit schlug riesige Wellen – und berührte einen empfindlichen Bereich von Burtons Leben, denn die Familie war mit den Arundells verschwägert, zu denen Isabel gehörte, seine ehemalige Verlobte.
Die Tichbornes zählten zu den ältesten Sippen in den südlichen Grafschaften, aber ihr Vermögen war über die vergangenen zwei oder drei Generationen erheblich geschrumpft – Gerüchten zufolge wegen eines uralten Fluches. In den letzten Jahren hatte der Fortbestand der Linie an zwei Erben gehangen. Der Älteste, Roger, verkörperte ein recht typisches Beispiel für einen ungebildeten Adeligen, während sein jüngerer Bruder Alfred als noch stumpfsinniger und obendrein als Spieler galt. Roger war die größte Hoffnung der Familie gewesen, bis er 1854 auf See verschollen ging, während er aus Südamerika zurücksegelte, um nach dem Tod seines Vaters Anspruch auf dessen erbliche Ritterschaft zu erheben. Und so wurde Alfred zum Letzten der langen Reihe der Tichborne-Ritter, und er
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