Der wundersame Fall des Uhrwerkmanns: Roman (German Edition)
etwas gegeben, um diese Behauptung zu untermauern – jedenfalls hat nie jemand einen solchen Edelstein gesehen, und in Anbetracht der aktuellen Finanzlage der Familie existiert er offensichtlich auch nicht.«
»Ehrlich gesagt, weiß ich nicht recht, was ich gerade denken soll«, verriet Burton.
»Wieso das?«
»Weil das … das … Nun, egal – sagen wir einfach, ich bin soeben Zeuge eines unfassbaren Zufalls geworden!«
»Etwas, wovon ich wissen sollte?«
»Nein. Ja. Nein. Äh … entschuldigen Sie, Sir, ich bin ein wenig durcheinander. Vor wenigen Wochen fand ein recht dreister Diamantenraub statt …«
»Ich kann mich nicht daran erinnern.«
»Es wurde nicht darüber berichtet. Scotland Yard bewahrt Stillschweigen darüber, solange die Ermittlungen noch laufen. Ich war in die Angelegenheit eingebunden, und meine anschließenden Nachforschungen legten einen Zusammenhang zwischen den verschwundenen Edelsteinen und dem Diamanten nahe, der Gerüchten zufolge in Chile von einem englischen Aristokraten gefunden wurde.«
»Ah.«
»Der Name des Adeligen wurde mir nicht mitgeteilt.«
»Und nun glauben Sie, es war Sir Henry Tichborne? Es tut mir aufrichtig leid, Sie enttäuschen zu müssen, aber die Sache ist wirklich nicht mehr als ein Märchen.«
Burton räusperte sich, denn er musste bei der Erwähnung von Märchen unwillkürlich an Feen denken.
»Zweifellos ein verlockendes«, fuhr Arundell fort. »Jedenfalls erlag der junge Roger dem Zauber des Mythos, und er beschloss, alle Orte zu besuchen, die sein Großvater bereist hatte – in der Hoffnung, dass auch er über unsagbaren Reichtum stolpern würde. Ein wahrhaft lächerliches Unterfangen, und es wäre völlige Zeitverschwendung gewesen, hätte er es in die Tat umgesetzt, doch kaum ging er in Valparaiso in Chile an Land, erreichte ihn die Kunde vom Tod seines Onkels, Sir Edward Doughty.«
»Also ging die Ritterschaft auf seinen Vater James über?«
»Richtig – solange, bis Sir James durch Herzversagen tot umfiel. Das war genau sieben Tage später. Nun war unser verlorener Sohn der neue Ritter und hatte Anrecht auf sämtlichen Besitz und das Anwesen der Tichbornes. Ich vermute, er konnte es kaum erwarten, ein Schiff – La Bella – zu besteigen, um nach Hause zurückzukehren. Am 20. April 1854 versank das Schiff, und der dritte Ritter in weniger als vierzehn Tagen war verloren. Sein jüngerer Bruder Alfred erbte den Besitz an seiner statt und hätte die Familie im Nu in den Ruin getrieben, hätte seine Mutter nicht ihren Freund Colonel Lushington ins Haus der Tichbornes geschickt, um sich Alfred vorzunehmen.«
Henry Arundell verstummte, um von seinem Wein zu trinken und einem Bekannten zum Gruß zuzunicken, der an einem nahen Tisch saß.
Burton fragte: »Aber wenn Sir Alfred ohnehin eine solche Bürde ist, warum sind die Familien Arundell und Doughty dann so besorgt darüber, dass sein älterer Bruder lebendig und wohlbehalten wieder aufgetaucht ist? Warum fechten sie Roger Tichbornes Anspruch auf die Ritterschaft an?«
Der ältere Mann blies ungeduldig den Atem aus und antwortete in scharfem Tonfall: »Weil der Mann, der sich derzeit in Paris aufhält, definitiv nicht Roger Tichborne ist – ganz einfach.«
Der Agent des Königs zeigte sich überrascht. »Er ist es nicht? Das entspricht nicht dem, was Lady Henriette-Felicité sagt. Zweifeln Sie etwa an der Fähigkeit einer Mutter, den eigenen Sohn zu erkennen?«
»Und ob ich das tue!«
»Mit welcher Begründung?«
»Mit der Begründung, dass die Witwe an der Schwelle zum Tod steht und sich verzweifelt die Rückkehr ihres verlorenen Sohnes herbeiwünscht. Mit der Begründung, dass sie fast völlig taub und blind ist. Mit der Begründung, dass Roger Tichborne seiner Mutter immer, ohne jede Ausnahme, auf Französisch geschrieben hat, doch der Mann, der sich derzeit als Roger ausgibt, hat Englisch geschrieben – obendrein ein sehr, sehr schlechtes Englisch. Und mit der Begründung, dass seine Handschrift völlig anders ist.«
»Die Handschrift eines Mannes kann sich im Verlauf eines Jahrzehnts verändern.«
»Und kann ein Mann auch die Rechtschreibung vergessen?«
»Hm«, brummte Burton nur.
Der Kellner traf mit ihrem Essen ein, und die beiden Männer aßen einige Minuten lang schweigend.
»Also ist Sir Roger Tichborne …«, setzte Burton schließlich an.
»Der Anspruchsteller«, fiel Arundell ihm barsch ins Wort. »Mit dem Namen Tichborne ehre ich ihn nicht eher, als dass
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