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Der Wunsch des Re

Der Wunsch des Re

Titel: Der Wunsch des Re Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anke Dietrich
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verkürzen sowie um mehr Licht und Luft für die Handwerker und die Soldaten in diesen Bereich zu leiten.
    Nachdenklich strich Meritusir sich über ihren kahl rasieren Kopf und überlegte, was sie als Nächstes tun könnte. Amunhotep hatte ihr zwei Schriftrollen gegeben, die sie in seiner Abwesenheit studieren sollte, aber dafür war auch noch später Zeit, und der Unterricht begann erst in den späten Nachmittagsstunden, wenn die größte Hitze vorüber war. Also beschloss sie, sich noch ein wenig auf der Baustelle umzusehen, obwohl es zurzeit hier nicht viel Neues zu entdecken gab.
    Sie schlenderte hinaus in das gleißende Sonnenlicht und sah den Maurern zu, die die an den Tempel angrenzenden Gebäude für die Priester und Bediensteten errichteten, aber auch die Werkstätten, Vorratsspeicher, Lagerhäuser und Küchen. Selbstverständlich durfte ein Palast nicht fehlen, obwohl der König diesen nie benutzen, sondern weiterhin bei seinen Aufenthalten in der Stadt des Osiris in dessen Tempelbezirk residieren würde.
    »Meritusir! Meritusir!« Die junge Frau drehte sich nach der ihr bekannten Kinderstimme um und sah Moses auf sich zugelaufen kommen.
    »Was machst du denn hier?«, fragte sie überrascht. »Musst du nicht in der Schule sein und lernen?«
    Der Junge schüttelte den Kopf und lachte sie fröhlich an. »Nein. Unser Lehrer ist krank, und es war niemand da, der ihn vertreten hat.«
    Meritusir musste schmunzeln. Also gab es auch in dieser Zeit Schulausfall, und die Schüler freuten sich genauso darüber wie ihre Leidensgefährten dreitausend Jahre später.
    »Ich denke, du willst etwas lernen«, sagte sie dennoch in vorwurfsvollem Ton und setzte eine strenge Miene auf. »Aber wie es scheint, bist du froh, dass du es nicht musst.« Sie hatte sich hingehockt und sah Moses kritisch an.
    Verlegen senkte der Neunjährige den Blick. »Ich freue mich, dass mich der Herr in die Schule schickt, aber die Lehrer sind immer so streng zu mir«, beklagte er sich. »Sie ziehen mich an den Ohren oder an meiner Jugendlocke und versuchen, mir mein Ohr mit dem Stock zu öffnen.« Traurig sah er zu Boden, und Meritusir nahm ihn in den Arm.
    »Moses, Moses! Die Lehrer werden schon einen Grund dafür haben, wenn sie dich bestrafen«, meinte sie und drückte ihn sanft an sich. Dabei bemerkte sie, dass der Junge irgendwie verhalten wirkte. Skeptisch sah sie ihn an. »Und es stimmt, dass du keinen Unterricht hast?« Ertappt schluckte Moses und senkte schuldbewusst den Blick. »Sage mir die Wahrheit!« Meritusir hatte den rechten Zeigefinger gehoben und drohte dem Knaben damit. »Wenn ich erfahre, dass du mich belogen hast, werde ich dir höchstselbst dein Ohr auf dem Rücken öffnen, das verspreche ich dir!« Das klang sehr streng, sodass dem Kind die Tränen in die Augen traten.
    »Bitte, Meritusir, schimpfe nicht mit mir.« Moses schlang seine Arme um ihren Hals und drückte sein Gesicht an ihre Wange. »Ich bin weggelaufen, weil der Lehrer mich bestraft hat und die anderen Kinder mich deshalb ausgelacht haben«, gestand er ihr unter Tränen, und mit einem Mal tat der Junge ihr leid.
    »Was hast du denn angestellt?«, wollte sie wissen.
    »Ich ... ich habe meine Aufgaben nicht gemacht, die wir gestern aufbekommen haben«, flüsterte er und schluchzte dabei herzzerreißend.
    »Und warum hast du sie nicht gemacht?«
    »Ich habe es vergessen.« Moses zuckte die mageren Schultern, und beruhigend strich Meritusir ihm über seinen geschorenen Kopf.
    »Du darfst nie vergessen, was man dir sagt oder womit man dich beauftragt, und dass du nun auch noch weggelaufen bist, wird deine Strafe nicht mildern.« Sie sah in sein trauriges Gesicht.
    »Schickst du mich jetzt wieder zurück in den Unterricht?«, fragte er bang, und nachdenklich legte Meritusir die Stirn in Falten.
    »Eigentlich müsste ich das tun. Da du aber so oder so Stockhiebe bekommen wirst und ich selbst auch einmal eine geplagte Schülerin war – komm, Moses. Ich zeige dir die Tempelbaustelle. Ich werde mir zwar dafür ebenfalls einen Tadel einhandeln, aber was soll’s!«
    Moses’ vom Weinen geröteten Augen leuchteten urplötzlich freudig auf, und er strahlte übers ganze Gesicht.
    Meritusir erhob sich aus ihrer hockenden Haltung, nahm seine Hand in ihre, und zusammen gingen sie zurück in das Heiligtum, wo sie dem Jungen alles zeigte und erklärte.
    Mit staunenden Augen sah Moses sich alles an und hörte der Priesterin zu. Schon bald hatte er den Unterricht, den Lehrer,

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