Der Wunschtraummann
Helligkeit. Nach Londons düsterem Grau blendet sie einen fast, und ich krame schnell meine billige Sonnenbrille heraus, die ich in Heathrow gekauft habe. Die setze ich mir auf die Nase und nehme einen tiefen Atemzug der sauberen Alpenluft, und dann bleibe ich einen Moment einfach nur da stehen und betrachte das verschneite Winterwunderland. Die Szenerie ist im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend. Unberührter weißer Schnee liegt über der Landschaft wie Zuckerguss auf einer Torte, dazu ein frischgewaschener Himmel in Vergissmeinnichtblau, strahlender Sonnenschein und …
»Schau mal, da ist er!«, sage ich atemlos.
»Wer?«, fragt Seb, ohne den Blick von seinem iPhone zu wenden.
Die ganze Fahrt vom Flughafen hierher hat er kein einziges Mal rausgeguckt, aber ausnahmsweise machte mir das überhaupt nichts aus. Ich war viel zu beschäftigt damit, aus dem Fenster die traumhaft schöne Landschaft zu bewundern und den Reiseführer zu studieren, den ich in meinem Überschwang am Flughafen gekauft habe.
»Der Mont Blanc«, rufe ich, schaue von den Seiten des Buchs auf und bestaune den majestätischen Anblick des Berges, der sich mit seiner weiß bestäubten Spitze vor uns in den Himmel erhebt. »Wusstest du, dass der Gipfel viertausendachthundertzehn Meter über dem Meeresspiegel liegt?«
»Ja, das wusste ich«, sagt er und schaut auf, wobei er übers ganze Gesicht grinst. »Wahnsinn, was?«
»Und wusstest du, dass Chamonix eigentlich Chamonix-Mont-Blanc heißt und Austragungsort der ersten Olympischen Winterspiele 1924 war?«
Na ja, wenn schon, denn schon, ist mein Motto. Wenn ich etwas tue, dann richtig. Manchmal übertreibe ich es auch ein bisschen, überlege ich, weil mein Oberschenkel immer noch ganz leicht zwickt und mich an das Fiasko mit meinem Military-Fitness-Kurs erinnert.
Ich merke, wie Seb mich mit einem breiten Lächeln im Gesicht anschaut. »Was habe ich dir gesagt? Ich wusste, es würde dir gefallen.«
Ich muss lachen, denn auch wenn ich mich anfangs dagegen gesträubt habe, muss ich ihm recht geben. Unglaublich, wie man sich irren kann! Ich muss gestehen, ich hatte eine völlig falsche Vorstellung vom Snowboarden! Glücklich strahle ich ihn an. Wir sind wie ein richtiges Pärchen, tun Dinge, die richtige Pärchen tun, und genießen unseren kleinen Wochenendausflug. Er grinst noch strahlender zurück, und ich könnte schier überquellen vor Dankbarkeit. Wow, ich bin so ein Glückskind, dass mir das passiert ist, dass ich diese unglaubliche Gelegenheit bekommen habe, all meine Fehler wiedergutzumachen und diesmal alles richtig zu machen. Ehrlich, ich glaube, ich bin das größte Glücksschweinchen auf Erden.
Selig und überschwänglich hake ich mich bei ihm unter, und wir marschieren gemeinsam los. Seb sieht aus, als gehörte er hier hin, in seiner Skijacke und den Schneestiefeln mit den profilierten Gummisohlen, dick wie Traktorreifen. Wohingegen meine Stiefel eher für britische Winter gedacht sind – sprich Schneematsch auf dem Bürgersteig statt Eis und Pulverschnee –, weshalb ich augenblicklich in alle Richtungen gleichzeitig zu rutschen beginne.
»Hoppla!« Ich gleite aus, und Seb fängt mich lachend auf.
»Halt dich fest«, meint er grinsend. »Es ist nicht weit.«
Seb gibt die Richtung vor und knirscht mit den Stiefeln sicher durch den Schnee, und so stapfen wir an etlichen Ski-Chalets vorbei, eins luxuriöser als das andere, bis wir schließlich zu einem beeindruckenden Nurdachhaus aus Holz ganz oben auf einem Hügel kommen, mit Panoramablick, einer riesengroßen Terrasse und … mein Herz macht vor Aufregung einen Satz … ist das etwa ein Whirlpool da draußen?
»So, da wären wir«, verkündet Seb und bleibt stehen. »Unsere Bleibe fürs Wochenende.«
»Wow«, sage ich atemlos und schaue es entzückt an. Sieht wirklich aus wie aus einem Hochglanzmagazin. Wenn ich das Fiona erzähle!
Wir stehen vor dem Haus, und er beugt sich zu mir herunter und küsst mich. Sein Mund ist weich und warm in der eisigen Luft, und es kommt mir vor, als hätte man mich in flüssiges Glück getaucht. Wie könnte es noch vollkommener sein?
Urplötzlich hört man einen kleinen Tumult im Haus, und erschrocken mache ich einen Satz nach hinten, als ich eine Männerstimme höre.
»Alter! Du hier!«
Eine sehr laute, sehr amerikanische Stimme. Eine Stimme, die klingt wie …
»Chris«, ruft Seb, als jemand von innen die Tür aufreißt und Sebs Freund aus dem Restaurant dahinter auftaucht. Mit einem
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