Der Wunschtraummann
passiert so beiläufig und entspannt, dass ich im ersten Augenblick gar nicht richtig mitbekomme, was hier eigentlich passiert.
Bis seine Lippen meine streifen.
Der Effekt lässt nicht lange auf sich warten, und sofort durchläuft ein altbekanntes schmerzliches Ziehen meinen ganzen Körper. Himmel, wie ich ihn vermisst habe! Und in diesem ersten schwindeligen, atemlosen, sehnsüchtigen Moment will ich ihn am liebsten an mich ziehen, die Arme um ihn schlingen und ihn küssen, dass ihm Hören und Sehen vergeht …
Ich trete auf die Bremse, und mein Hirn kommt kreischend zum Stehen.
Tess, nein! Das kannst du doch nicht machen. Ihr habt euch gerade erst kennengelernt, schon vergessen? Und außerdem bist du nicht mal fünf Minuten in seiner Wohnung – da kannst du ihn doch nicht einfach in seiner Küche anfallen. Was soll er denn von dir denken? Du willst doch die perfekte Freundin abgeben und kein leichtes Mädchen.
Also reiße ich mich zusammen und gebe ihm einen flüchtigen Kuss auf die Lippen.
Und ich dachte, letztes Jahr in der Fastenzeit auf Schokolade zu verzichten sei schwer gewesen. Glauben Sie mir, dieser Kuss hat mich eine Menge Willenskraft gekostet.
Wir lösen uns voneinander, und er schaut mir so lange tief in die Augen, dass mir die Knie weich werden, und sagt dann: »Machen wir es uns doch bequem«, wobei er aufs Wohnzimmer deutet.
»Okay«, entgegne ich, wie ich hoffe mit sexy rauer Stimme. Tatsächlich klinge ich allerdings eher schrill und kieksig wie damals, als ich mit Fiona auf einer Verlobungsfeier war und wir uns betrunken und dann Heliumballons eingeatmet haben und dann den ganzen Abend wie Micky Maus klangen.
Nur gibt es diesmal keine Heliumballons. Diesmal gibt es nur Seb und mich. Allein in seiner Wohnung mit einer Flasche Rotwein, und die ganze Nacht liegt vor uns. Meine Lippen prickeln noch, und mit einem vorfreudigen Kribbeln folge ich ihm zum Sofa.
Was das andere angeht, dafür ist später noch Zeit genug.
Fünfzehntes Kapitel
Man stelle sich folgendes Szenario vor:
Weiches Licht von schicken, teuren Lampen, die strategisch im ganzen Raum verteilt sind. Ambient-Chillout-Musik, die aus versteckt angebrachten Lautsprechern wabert, und ich und Seb aneinandergekuschelt auf dem großen, knautschigen Sofa.
Zwei Gläser Wein, vierzig Minuten und eine Menge wildes Geknutsche später bin ich im siebten Himmel. Eigentlich kann ein zweites Date kaum besser laufen, überlege ich, während ich mein Gesicht an seinen Hals schmiege und den vertrauten Duft von fast verflogenem Aftershave und Deo einatme. Ich sauge es förmlich ein. Zum Teufel mit all den teuren Parfums, das hier ist eindeutig mein absoluter Lieblingsduft.
»Noch ein Glas Wein?«, flüstert Seb mir ins Ohr.
»Mmm, ja, bitte.« Langsam erwache ich aus meiner süßen Träumerei und setze mich leicht beschwipst auf. Mir ist ganz wohlig watteweich zumute, und es kommt mir vor, als sei alles mit Weichzeichner bearbeitet worden, wie eine Bleistiftzeichnung, bei der man die Linien mit einem Radiergummi verwischt hat.
»Dieser Jahrgang ist fabelhaft«, erklärt Seb, nimmt die Flasche und schenkt mir noch ein Glas ein.
»Mmm, ja, köstlich.« Ich trinke ein Schlückchen. »Was trinken wir hier eigentlich?«
»Einen Pinot Noir von meinem Lieblingswinzer aus den Staaten.«
Was in den Untiefen meines Hirns eine vage Erinnerung weckt, und als er auch sich ein Glas einschenkt, schnappe ich mir den Korkenzieher, der vor mir auf dem Tisch liegt. Geistesabwesend betrachte ich den Korken, der unten vom Rotwein verfärbt ist, und lese: »Stanly Ranch Pinot Noir 2002«.
Jetzt klingelt es bei mir.
Augenblicklich muss ich an den Schuhkarton denken, den ich ins Feuer geworfen habe. Vielmehr an dessen Inhalt. An den Weinkorken, den ich als Erinnerungsstück aufgehoben hatte. Das ist die gleiche Flasche, die wir damals zusammen geleert haben. Als wir uns das erste Mal gemeinsam betrunken und die Nacht miteinander verbracht haben.
Als wir das erste Mal miteinander geschlafen haben.
»Es ist schon ziemlich spät …«
Schlagartig lande ich wieder in der Gegenwart.
»… und da dachte ich mir …« Er unterbricht sich, und irgendwo ganz tief in mir drin spüre ich einen Pulsschlag. Ich weiß genau, was er sagen will, aber das macht es nicht weniger aufregend. Nein, eigentlich macht es das nur noch aufregender. »Möchtest du vielleicht hierbleiben?«
Mein Unterleib beantwortet die Frage, ehe mein Hirn es tut. Fast wie Telepathie.
»Oder
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