Der Zauber der Casati
blickende Villa San Michele war ein extrem raffinierter Hafen des Friedens, durch dessen zahllose Fenster strahlendes Licht hereinströmte.
Luisa hatte von dieser Villa gehört und sich schriftlich angemeldet. Axel Munthe war einverstanden gewesen, doch bald, alarmiert von dem rasanten Ruf der Marchesa, besann er sich anders und teilte ihr in einem unbeholfenen Brief mit, die Villa San Michele stehe in diesem Monat doch nicht zur Miete. Und was tat die Casati? Sie fuhr einfach trotzdem hin, was sonst.
Eines Morgens im Mai 1920 las Munthe am Tresen seiner Stammbar an der Piazzetta zum Kaffee die Zeitung. Das Blatt brachte bunt durcheinander tragische Ereignisse und banale gemischte Nachrichten. Die Titelseite war der achten Ausgabe des Giro d’Italia gewidmet. «2634 Kilometer!», so lautete die Schlagzeile, unter der begeistert die Leistungen von Gaetano Belloni beschrieben wurden, Sieger auf drei von zehn Etappen. Munthe war nicht besonders sportbegeistert, er blätterte weiter. Italien wurde zu der Zeit von einer beispiellosen wirtschaftlichen und sozialen Krise erschüttert. Generalstreik in Turin, anarchische Aufläufe von über einhunderttausend Menschen, bei denen die Polizei in die Menge schoss und ein Blutbad anrichtete. D’Annunzio in Fiume. Die Regierung machtlos. Auf einer vollen Seite wurde vom zweiten Kongress der Fasci Italiani di Combattimento , der Italienischen Faschistischen Kampfbünde und Vorläufer des Partito Nazionale Fascista , berichtet, der in der Oper von Mailand stattfand. Ein Foto mit sich viril gebenden Männern im Schwarzhemd illustrierte den Artikel. In der Mitte der junge Benito Mussolini, der viel von sich reden machte. Munthe interessierte sich nur mittelprächtig für Politik. Capri schien so weit entfernt von den Kämpfen und Debatten, die den Rest der Welt erregten. Gelassen die Ellbogen auf den Tresen gestützt, blätterte er nonchalant in seiner Zeitung und ließ den Blick auf dem Dekolleté der Wirtin ruhen, einer gutaussehenden Brünetten mit olivfarbenem Teint. Sein Gärtner schreckte ihn jäh aus dieser träumerischen Betrachtung:
«Signor Munthe! Signor Munthe! Kommen Sie schnell!»
Ganz außer Atem, berichtete der Mann mit großen Gesten, wie die Marchesa Casati am Tor der Villa San Michele geläutet hatte, ihre vierundfünfzig Koffer, den blauen Papagei, den Riesen Garbi und ein knappes Dutzend Bedienstete im Schlepptau. Auf ihr Kommen nicht vorbereitet, hatte er das Tor nach bestem Vermögen gehütet, doch angesichts dieser energischen und beharrlichen Frau waren ihm bald die Argumente ausgegangen. «Signor Munthe! Diese Frau ist sehr … sehr … wie soll ich sagen? Sehr entschieden.» Munthe traute seinen Ohren nicht. War sie doch gekommen, trotz der expliziten Absage des Vermieters! Was die sich erlaubte! Man hatte ihm nicht zu viel erzählt, diese Frau war zu allem imstande. «Soll sie eben ins Hotel Quisisana gehen oder ins Paradiso!», warf der Schwede hin. Der Gärtner seufzte. «Kommen Sie nicht?» – «Warum denn, und wozu? Um ihr zu sagen, sie soll ins Hotel gehen?» Munthe setzte eine gespielt gutmütige Miene auf. «Dazu brauchen Sie mich doch nicht, mein Bester. Sagen Sie ihr, das Hotel Quisisana verfügt über allen modernen Komfort.» Dann drehte er ihm den Rücken zu und griff mit der Befriedigung dessen, der eine Sache schnell geregelt hat, zu seiner Zeitung, fügte dann noch, um zu zeigen, dass das Thema damit für ihn erledigt war, kühn hinzu: «Und dass sie sich bloß nicht wieder bei mir blicken lässt, die Hexe!»
Der Gärtner ging unter dunkler werdendem Himmel zurück. Und ein fürchterliches Gewitter brach los. Früh am Nachmittag, immer noch regnete es in wahren Sturzbächen, stand eine bis auf die Knochen durchweichte junge Frau vor Munthes Haustür. Am Rande der Hysterie erklärte sie dem Arzt, die Marchesa Casati schicke sie. Die Koffer, für die sie offenbar verantwortlich war, stünden immer noch vor der Villa San Michele und regneten voll. Sie flehte ihn an, ihre Dienstherrin in sein Haus zu lassen. Die Casati stelle das Hotel Paradiso auf den Kopf, tyrannisiere das gesamte Personal, und es werde ganz sicher furchtbar enden. Hätte es nicht derart geregnet, Munthe hätte meinen können, die junge Frau weine. Dieser Auftritt überzeugte ihn vollends, dass es sich bei Luisa um eine gefährliche Verrückte handelte, die er keinesfalls als Mieterin haben wollte. Entschlossen schickte er das triefende, magere Mädchen weg, ging zu
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