Der Zauber der Casati
Blick in die Tiefe zu richten und abzustürzen. Die Sirenen des Wahnsinns lockten in ihrem Herzen. Vieni! Vieni! Komm! Sieh dein Leben doch an! Du hast nichts mehr zu verlieren. Luisa war drauf und dran, die letzte Grenze zu überschreiten, die, hinter der Lüge und Realität ein und dasselbe sind, hinter der es keine Notwendigkeit mehr gab, beides zu unterscheiden. «Ich bin die Jungfrau!»
Der Legende zufolge blieb der Kardinal keine fünf Minuten. Das Personal fand die Hausherrin auf dem Boden liegend, in Tränen aufgelöst. Luisa weinte sonst nie. Gewiss, sie schrie und jaulte, sie zitterte, aber ihre Tränen waren in der Kindheit versiegt. Wozu weinen, wenn niemand einem ein Taschentuch reicht? Was war wohl passiert? Hatte der geistliche Herr sie ernst genommen? Ihr die Hand gereicht? Ich möchte es bezweifeln. Wahrscheinlich hatte sie in sich selbst die Kraft gefunden, sich am eigenen Schopf aus dem Morast zu ziehen, so gern sie vielleicht auch darin versunken wäre. So etwas konnte sie – sich selbst Angst einjagen und dann sich selbst beruhigen. Als sie gerettet war, glitt sie zu Boden und weinte. Alles ist ganz eitel und ein Haschen nach Wind.
Zwei Tage darauf starb der Kardinal an Lungenentzündung, genau wie Anaxaragus. Und Luisa ging nicht zu seiner Beerdigung.
D er Absturz mochte unabwendbar sein, doch er näherte sich mit großer Langsamkeit. 1929 musste Luisa in geschäftlichen Angelegenheiten nach Mailand reisen. Lorenzo Saracchi, der genaue, ernsthafte, getreue Rechenmeister, wusste nicht mehr, wie er das Desaster abwenden sollte. Er empfing sie mit strengem Gesichtsausdruck, in der Hoffnung, es könne ihm gelingen, ihrer Verschwendungssucht einen Riegel vorzuschieben. Andererseits kannte Saracchi seine Klientin nur zu gut und ahnte, dass alle Bilanzen der Welt, alle Alarmrufe und gerunzelten Augenbrauen nur eine vorübergehende Wirkung zeitigen würden, wenn überhaupt. Weiterhin war er Camillo Casatis Buchhalter, der war wenigstens vernünftig. Verlangte Camillo Neues über seine Frau zu hören? Ich stelle mir vor, wie er eine betrübte Miene aufsetzt, als er von Luisas schwindelerregenden Ausgaben hört, und insgeheim erleichtert ist, das sinkende Schiff rechtzeitig verlassen zu haben. Luisas Konto war zwar noch im Plus, doch es schmolz furchterregend schnell zusammen, und wenn dieses Guthaben aufgezehrt war, würde es nichts mehr zu holen geben. Das trieb den gewissenhaften Berater zur Verzweiflung. Luisa präsentierte ihm die Rechnung für den Cagliostro-Ball: 500000 Goldfranc, davon allein 120000 für die Beleuchtung. Das raubte Saracchi den Schlaf, tausend schwarze Kerzen leuchteten ihm in seiner Schlaflosigkeit.
Luisa nutzte den Aufenthalt in Italien, um Gabriele D’Annunzio zu besuchen, ein letztes Mal. Ich habe mir das Vittoriale angesehen, diese aus der Zeit gefallene Irrsinns-Bude, einst von einem Verrückten bewohnt. Die Wände voller Bücher, ein Sammelsurium bunt zusammengewürfelter Gegenstände, die Drahtbrille auf dem Schreibtisch, als wäre der Poet nur eben runtergegangen, sich einen Kaffee machen, und könnte jeden Moment zurückkommen und weiterschreiben. Das kleine Bett im Sterbezimmer, auf dem Gabriele über die Ewigkeit zu meditieren pflegte, Orgeln und Klaviere in sämtlichen Räumen, Ikonen und Buddhas, Kissen, Wandbespannungen, Seidenvorhänge, die das Licht aussperrten, seinem kranken Auge zuliebe, die lateinischen Inschriften an allen Wänden und allen Türen, die Verse aus Dantes Inferno an den Deckenbalken. Im blutrot gestrichenen Speisezimmer wies die Führerin uns auf eine riesige Schildkröte an einem Ende des Esstischs hin. Der Körper war aus Bronze gefertigt, der Panzer vergoldet. «Der Panzer gehörte zu einer Schildkröte, die sich hier im Garten des Vittoriale an Tuberosen überfressen hatte. D’Annunzio stellte sie hierhin, um seine Gäste zur Mäßigkeit anzuhalten.» Mein Herz machte einen Hüpfer. Diese Schildkröte hatte meine Marchesa ihrem Freund geschenkt, der sie behielt, um immer an seine Coré zu denken. Die Führerin aber sprach nur über die Frau Mutter und über Eleonora Duse, Gabrieles einzige große Muse. Wie ungerecht! Die Porträts beider Frauen hingen nebeneinander an der Wand und belegten ihre Worte. Am Ende der Führung fragte ich, ob denn gar nirgends ein Foto von der Casati zu sehen sei. Die Führerin war hilfsbereit. Wir gingen ein Stück zurück, sie stieg über ein rotes Absperrband, um ein hinter einem Bücherstapel
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