Der Zauber der Casati
rose ein. Luisa war eine Intellektuelle, sie liebte lebhafte Diskussionen, in denen die Meinungen aufeinanderprallten, sie kannte ganze Passagen von Proust auswendig, die sie zum Amüsement der Anwesenden Zeile für Zeile kommentierte, sie liebte es, über Politik und Kunst zu reden. Sie schickte dem Erzbischof ihre Karte, mit keiner anderen Absicht als der, einen interessanten Abend zu verbringen.
Der Kardinal schlug die Einladung aus, nicht wissend, dass dies das beste Mittel war, das Interesse der Marchesa erst recht zu wecken. Die Casati-Maschinerie ging los. Einen Monat lang ließ Luisa sich bei keinem gesellschaftlichen Anlass mehr sehen, ging zu keinem Fest, empfing keine Gäste und verbreitete über die übliche Gerüchteküche, sie suche jeden Tag die Armen und Kranken auf. Ich kenne meine Luisa gut genug, um zu wissen, dass sie keine philanthropische Seele war, aber ich bin sicher, dass sie schon am ersten Tag, an dem sie diese Besuche aufnahm, Gefallen daran fand. Luisa konnte nichts ohne Begeisterung tun. Für sie war jede neue Beschäftigung gleichbedeutend mit Amüsement. Was sagte sie, wenn sie in den Elendsquartieren zur Tür hereinkam? Das war ein neues Publikum, sie passte ihren Auftritt dem sicherlich an. Dann wurde sie dieser Menschen rasch überdrüssig, verkündete, sie sei von einem bösen Geist besessen, und sandte einen Diener zum Erzbischof, auf dass der sie exorzisiere. Doch weder ihre Besuche bei den Armen noch diese Dämonengeschichte konnten das Bild der drogensüchtigen, mondänen Sünderin beheben, das der Erzbischof sich von ihr gemacht hatte. Er antwortete, eine Bronchitis halte ihn im Bett fest, und fügte ironisch hinzu, er werde sich um die Rettung ihrer Seele kümmern, wenn es ihm bessergehe. Diesmal tobte Luisa.
Um Mitternacht schickte sie erneut einen Diener, der beim Erzbischof anklopfte: Von den Dämonen der Hölle gejagt, habe die Marchesa Casati einen schweren Autounfall erlitten und bitte den Priester an der Schwelle des Todes, ja flehe ihn an, er möge kommen und ihr die letzte Ölung spenden.
Der alte Mann kletterte aus dem Bett und ließ sich zum Palais rose bringen. Als er eintraf, erwartete sie ihn hoch auf den Stufen der Eingangstreppe, ganz in Weiß gekleidet, einen weißen Papagei auf der Schulter, der den Heiligen Geist verkörpern sollte, eine weiße Lilie in der Rechten. Sie erinnerte sich der Bilder, die sie in der Kindheit gesehen hatte, wenn ihre Schwester und sie ins Museo di Brera gingen, wo ihr Hauslehrer ihnen die Symbolik der Königsblume in Mariens Händen erläutert hatte. Luisa beherrschte die religiöse Ikonographie perfekt, im Grunde war sie das Einzige, das ihr am Katholizismus gefiel, ihr eigentlicher Glauben war sehr schwankend, gelinde gesagt. Jetzt hatte sie die Theatralik auf den Gipfel getrieben. Den Blick ins Leere gerichtet, wiederholte sie da oben auf der Treppe immer wieder: «Ich bin die unbefleckte Jungfrau!»
Die Schwelle zum Wahnsinn ist eine dünne Linie, sehr schmal und fragil. Wer die Verrückte eigentlich nur spielt, wird es unversehens selbst. Was erst nichts als ein Spiel aus Dünkel war, verselbständigte sich für eine Nacht auf gefährliche Weise. Über die Jahre hinweg hatte Luisa sich eine Rüstung zugelegt, aber sie war nicht unerschütterlich. Als Gefangene einer Talmi-Welt hatte sie immer die Kraft gefunden zu reisen, umzuziehen, einen Ort zu finden und den Ort zu wechseln; die Kraft, die entsetzliche Leere ihres Daseins zu bemänteln. Alles ist ganz eitel. Es bedarf doch immerhin einer gewissen Art von Mut, Proust auswendig zu lernen, exzentrische Projekte auszuhecken, um Unbekannte zu beeindrucken, oder eine Nummer abzuziehen, um einen Kardinal zu foppen. Den Mut, morgens aufzustehen und sich dem Leben, das eigentlich keinen Inhalt hat, zu stellen und Gründe zum Lachen zu suchen. Doch das Lachen wollte sich nicht einstellen. «Ich bin die unbefleckte Jungfrau! Ich bin die unbefleckte Jungfrau!» Da stand sie oben auf der Treppe und konnte auf einmal nicht mehr nachdenken. «Ich bin die unbefleckte Jungfrau!» Jäh verlor sie den Boden unter den Füßen und wusste nicht mehr, warum sie das eigentlich tat. Um einen Priester lächerlich zu machen – oder war sie selbst zum Spektakel geworden? Dieser mechanisch wiederholte Satz hatte sich ihres ganzen Wesens bemächtigt, sie konnte nicht mehr aufhören. Kann man eine Sekunde lang verrückt sein? Sie stand ganz nah am Rande des Abgrunds, sie brauchte nur noch den
Weitere Kostenlose Bücher