Der Zauber der Casati
becircen. Einmal hörte Luisa, wie Livio, der Dummkopf, rief: «He, eine Stute kann doch nicht eine andere Stute besteigen!» Alle anderen lachten …
G inetta, geh dir die Hände waschen!»
Vergeblich suche ich Anekdoten, Details, Belege, meine Recherche stagniert. Ganze Abschnitte von Luisas Leben bleiben stumm. Sie kommt mich im Traum besuchen, um mich aus dieser misslichen Lage zu befreien. Diese Nacht hat sie mir ihren kleinen Finger gezeigt.
Luisa hasst es, von Tante Fanny Ginetta genannt zu werden. Non sei mia madre – Du bist nicht meine Mutter. Trotzdem ertappt sie sich oft bei dem Wunsch, Onkel und Tante mögen zum Essen in die Villa Amalia kommen. Sogar die verhassten Cousins sollen dabei sein. Alles, um der Stille zu entgehen, dem gelblich-betrübten Gesicht des Hausverwalters, der am Kopf der Tafel sitzt und den Suppenlöffel mit Leichenbittermiene zum Munde führt. Die ganze Woche freut sie sich darauf, und wenn sie das Hufgetrappel hört, springt sie auf, am liebsten würde sie ihnen entgegenlaufen und ihnen um den Hals fallen. Auf der Treppe vor der Haustür dann bleibt sie stehen und sieht zu, wie sie aus der Kutsche steigen. Sie sind klein, und sie sind hässlich. Die pummelige Tante steckt in einem schwarzen Kleid, das sie wohl für würdevoll hält, und trägt einen schaurigen Hut. Kerzengerade und stumm lässt sich Luisa von ihnen umarmen. Ihre Küsse klingen falsch. In die Villa Amalia zu kommen, ist für sie eine lästige Pflichtübung, das weiß Luisa genau. Francesca ahnt nichts dergleichen, diese engelhafte große Schwester lebt nach dem glücklichen Grundsatz, dass alle sie lieben müssen. Luisa geht auf ihr Zimmer, schließt sich ein und wartet auf die Glocke zum Essen. Sie nimmt ihre Handarbeit, aber die Nadel fällt ihr hin. Sie langweilt sich, sie hat keine Freunde. Zu Tode langweilt sie sich. Sie möchte anerkannt, nicht mehr wie ein Kind behandelt werden. Es ist ihr unerträglich, wenn ihr Onkel sie beim Kinn fasst und sagt: «Du bist ja schon wieder gewachsen, meine Kleine! Bald bist du größer als ich!» Luisa tötet ihn mit Blicken. Soll er lachen, der alte Onkel, der Ahnungslose, er hat ja keinen Schimmer, wie sehr sie sich danach sehnt, erwachsen zu sein. Wenn es dereinst so weit ist, fährt sie ans andere Ende der Welt und lässt sie in ihrer Provinz vergammeln. Dann wird sie zu rauschenden Bällen eingeladen, sie wird so schön sein, dass alle anderen vor Eifersucht platzen. Ihre Cousins werden sie um einen Tanz anflehen, doch sie wird ihnen nicht einmal einen Blick gönnen. Das wird ihre Rache. Eine Königin wird sie sein. Es ist Luisa sehr wohl bewusst, dass niemand das weiß, sie ist ja nicht einmal hübsch. Ich würde ihr gern ins Ohr flüstern, dass sie eine freie Frau sein wird, dass ihr das bereits eingeschrieben ist. Vielleicht weiß sie es ja schon. Bald wird ein Gatte den Platz ihres Onkels einnehmen, sie ist ja nicht dumm. Aber wenigstens ist sie dann erwachsen und wird in Mailand oder sogar Rom leben. Luisa hasst die Ländlichkeit der Wiesen und Felder von Erba, glühend wünscht sie sich, in einer quirligen Stadt zu leben. Sie weiß schon sehr genau, wie sie den Salon einrichten wird, und zwar originell. Sie wird mit Bedacht ihre Kleider und ihre Freunde wählen, begeisternde Freunde. Nie werden sie bei Tisch von Fabriken und Baumwollpreisen reden.
Jetzt muss sie etwas unternehmen, fern läutet schon die Essensglocke. Sie will ihnen allen zeigen, wer sie ist. Ihr Blick fällt auf das Tintenfass auf ihrem Schreibtisch, sie nimmt es zur Hand und dreht behutsam den Deckel auf. Der herrlich herbe Geruch der frischen Tinte kitzelt ihr in der Nase. Langsam steckt sie den kleinen Finger hinein, bis auf den Grund. Als sie ihn herauszieht, glänzt er jettschwarz. Winzige Tröpfchen laufen zusammen und rieseln über den grauen Fingernagel. Die Glocke ertönt ein letztes Mal. Rasch rennt Luisa aus ihrem Zimmer.
Alle sind schon bei Tisch. Sie gibt sich Mühe, ganz natürlich zu wirken. In ihrem Herzen jubelt ein Lachen. Sie hat eine Dummheit gemacht, aber eine so abseitige Dummheit, dass sie nicht wissen werden, wie sie reagieren sollen. Ein harmloser, unauffälliger Eingriff, ein kleiner Finger, was ist das schon. Francesca hat nur Augen für ihren Teller, sie ist keine gute Beobachterin. Die beiden Alten haben es gesehen. Sie sind perplex. Sie tauschen einen schrägen Blick, können sich aber nicht zu einer Bemerkung entschließen. Die Köchin hält Einzug, trägt
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