Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman
sondern um den Alltag in der Buchhandlung. Ist es nicht ein bisschen viel auf einmal, wenn sie jeden Tag dieselbe Luft atmet wie Sie, jeden Tag im selben Raum ist?«
»Für sie vielleicht.«
»Dann fragen Sie sie.«
»Ich komme gleich wieder«, sagte Van.
Er kam mit Anis zurück. Sie war mit Francesca einer Meinung, sie hatte ein wenig Angst zu ersticken.
»Von zwei bis sechs Uhr nachmittags?«, schlug Francesca vor. »Für den Anfang die ruhige Zeit, wäre Ihnen das recht? Und während dieser Zeit verdonnern wir Ivan zum Lesen. Seit Der gute Roman sein Reich ist, liest er nur noch ein Zehntel dessen, was er früher las, so geht das nicht weiter!«
Anis sah auf die Armbanduhr.
»Los«, sagte sie Van und gab ihm einen Stoß in den Rücken. »Lesezeit.«
Van ging in den ersten Stock hinauf, ließ sich in einen der großen Sessel fallen, schloss die Augen, um die allerjüngste Vergangenheit noch einmal an sich vorbeiziehen zu lassen, und schlief ein. Unterdessen führte Francesca Anis durch die Buchhandlung, erzählte ihr deren Geschichte und machte sie mit den Räumlichkeiten vertraut.
Nach einer Stunde sagte sie: »Wirklich, heute ist ein Glückstag …« Sie brachte den Satz aber nicht zu Ende. Anis sah sie fragend an. Francesca erzählte ihr, dass ihr am Vormittag ihre Handtasche gestohlen und dann, nach weniger als zwei Stunden, wiedergefunden worden sei. Und nichts habe gefehlt, nur ein bisschen Bargeld.
»Was soll denn das?« Ivan war ein bisschen verärgert. »Ich wusste nichts von diesem Diebstahl. Mir haben Sie nichts erzählt.«
»Sie hatten viel Wichtigeres im Kopf.«
»Ich war berauscht, das stimmt, und völlig erschöpft. Francesca, sagen Sie mir die Wahrheit. Haben Sie mir von dem Diebstahl erzählt, und ich habe nicht reagiert?«
»Ja, so war es. Aber es war ja auch keine große Sache.«
»Erzählen Sie«, sagte Heffner.
»Am Morgen des 8. Juni – an dem Tag, an dem ich Anis zum ersten Mal gesehen habe«, erzählte Francesca, »kam ich aus dem Haus und ging die Straße hinauf, als ich plötzlich ein Motorrad hinter mir hörte. Dann traf mich wie ein Blitz ein Schlag auf die Schulter, es tat furchtbar weh, ich strauchelte und hielt mich an einer Wand fest. Das Motorrad fuhr an mir vorbei, ich sah zwei Personen darauf sitzen, und dann begriff ich, dass sie mir gerade die Handtasche gestohlen hatten.«
Francesca hatte noch ihre Hausschlüssel und ging deshalb zurück in die Wohnung, um ihre Bank anzurufen, damit niemand Geld von ihrem Konto abheben konnte. Dann suchte sie das Kommissariat in der Rue Bonaparte auf, um den Diebstahl anzuzeigen, hatte aber zunächst Hemmungen, von der Buchhandlung und den Angriffen, denen sie in den vergangenen drei Monaten ausgesetzt gewesen war, zu sprechen. Sie entschloss sich dann doch dazu, weil sie fürchtete, es könne seltsam wirken, wenn sie es nicht täte, vielleicht sogar als Verschleierung aufgefasst werden. Zu ihrer Überraschung interessierte sich der Polizist, der ihre Anzeige aufnahm, kaum für ihre Geschichte. »Allein in diesem Arrondissement werden täglich zehn Handtaschen gestohlen«, erklärte er ihr in einem Ton, als ginge es um die durchschnittliche Niederschlagsmenge in Paris.
Eine Stunde danach – Francesca war wieder nach Hause gegangen – erhielt sie einen Anruf: Ihre Handtasche sei wieder da. Sie sei in einem Restauranteingang in der Rue Dauphine gefunden und ins Kommissariat gebracht worden.
Es fehlte nichts, nur die dreißig Euro, die darin gewesen waren. Francesca wunderte sich, dass man beispielsweise nicht einmal ihre Kreditkarte gestohlen hatte. »Das kann ich Ihnen erklären«, sagte der Polizist mit derselben Blasiertheit, die auch sein Kollege, der ihr die Handtasche gab, zur Schau trug. »Eine Kreditkarte ohne PIN ist schwierig. Dafür braucht man eine gewisse Ausbildung. Und vor allem wissen die Jungs heutzutage, dass sie mit Plastikgeld Spuren hinterlassen. Und das mögen sie nicht.«
»Hatte er recht?«, mischte sich Ivan ein. »Ist nichts von Ihrem Konto abgehoben worden?«
»Gar nichts.«
»Aber warum haben Sie mir das alles nicht gesagt?«
»Ich habe es versucht, Ivan.«
»Sie hätten mich zwingen sollen, Ihnen zuzuhören!«
Francesca antwortete nicht. Sie schüttelte sanft den Kopf, den Blick ins Leere gerichtet, und sagte dann: »Sie erinnern sich vielleicht, ein bisschen später musste ich nach Orta San Giulio.«
»Ja, ich erinnere mich, Sie wurden dorthin gerufen. Etwas Dringendes: Ein Unwetter hatte
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