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Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman

Titel: Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Cossé
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folgen.
    Eines Abends also um sieben Uhr – der Himmel war blau-rosa getönt – ließ Van die Buchhandlung in Oscars Obhut und eilte zur Rue du Bol-en-Bois. Er klingelte, aber es meldete sich niemand. Sie sei noch nicht wieder da, bestätigte auch der Concierge.
    Van konnte nicht mehr zurück. Er postierte sich vor der Tür. Sollte Anis bei seinem Anblick kehrtmachen, würde er ihr hinterherrennen, sie an den Haaren festhalten und ihr den Hals umdrehen.
    Sie kam eine Stunde später, so in ihre Gedanken vertieft und den Blick so tief gesenkt, dass sie ihn erst im letzten Moment in einem Meter Entfernung vor sich aufragen sah, reglos. Sie zuckte nicht zurück, sie machte auch keine Bewegung auf ihn zu, sie machte gar nichts.
    »Kleines Wunder«, sagte er leise.
    »Irgendwas nicht in Ordnung?« Sie wurde sehr blass.
    »Im Gegenteil. Sie kommen. Und ich atme wieder.«
    »Sollen wir ein wenig spazieren gehen?«, schlug sie, sehr auf der Hut, vor.
    »Ein wenig oder auch mehr, solange Sie möchten.« Van nahm ihren Arm.
    Sie gingen die vom Sonnenuntergang vergoldete Rue Claude-Bernard hinauf und dann durch die völlig menschenleere Rue des Feuillantines. Sie sagten nichts. Van spürte, wie verkrampft Anis an seinem Arm hing, am liebsten hätte er aus Federn oder Laub bestanden und nach Bergamotte oder Akazie geduftet.
    Sie waren schon in der Avenue de l’Observatoire, wo sich das Abendlicht unter die dicht stehenden Kastanien stahl, als Ivan plötzlich eine Idee durch den Kopf schoss. Eine Idee, die er, der stundenlang Anis’ kleinste Gesten und Worte analysiert hatte, völlig unkontrolliert und unüberlegt aussprach, wie um eine Entdeckung mitzuteilen: »Es ist mein Alter«, sagte er. »Sie haben keine Lust auf eine Beziehung mit einem Mann, der Ihr Vater sein könnte.«
    Bei diesen Worten ließ er sie los und stellte sich vor sie. Und als er sah, wie sich ihr Gesichtsausdruck änderte und ihre Augen sich mit Tränen füllten, stellte er die Verbindung zwischen seinem »Ihr Vater« und dem Satz her, den sie ein Jahr zuvor in ihrem Brief über den »furchtbarriechendenStiefvater« geschrieben hatte.
    Er nahm sie in die Arme. Sie machte sich heftig los. »Das Alter geht ja noch«, schluchzte sie. »Es sind die Augen.« Laut weinend und ohne Van anzusehen, schrie sie: »Ich ertrage keine … blauen Augen … Ich ertrage es nicht, wenn … sich blaue Augen meinem Gesicht nähern. Ich meine … Mein Stiefvater ist ein schrecklicher Mann, er stinkt … Er hat kleine helle blaue Augen, und ich sah nur sie …«
    Sie rannte weg. Im Zickzack. Van hatte Angst, dass sie hinfallen würde. Er hätte sie mit zwei Schritten einholen können, doch in diesem Augenblick hatte er nur den einen Wunsch, ihr klarzumachen, dass er sie nicht einfangen, nicht zurückhalten würde, dass er sie gehen lassen und auch aus der Ferne lieben würde.
    Er ging zu Fuß zurück, während es Nacht wurde. Als er zu Hause ankam, war der Brief fertig. Er schrieb ihn in einem Zug:
    Mein Alter und meine Augen sind Teil von mir, ich kann sie nicht ändern. Es ist für mich unerträglich zu wissen, dass ich eine Qual für Sie bin. Ich liebe Sie, und ich lasse Sie gehen. Ivan.
    Er schlief ein wie ein Klotz, wachte mitten in der Nacht auf, ging den Brief im Geiste noch einmal durch, um ihn dann doch nicht zu ändern, und schlief wieder ein. Wurde vom Vogelzwitschern geweckt, steckte den Brief in einen Umschlag und brachte ihn zur Portiersloge der Wohnanlage in der Rue du Bol-en-Bois.
    Den Tag verlebte er wie unmittelbar nach einem großen Verlust, er arbeitete unablässig, war aufmerksam gegenüber jedem, der mit ihm sprach, und ließ sich auch das beiläufigste Wort nicht entgehen. Er machte Umwege, um die Blumen nicht zu sehen. Er hatte keine Traumwelt mehr, keine Zuflucht, keine Erwartungen, er war reine Verfügbarkeit in der furchtbaren Überfülle all der Momente, die einen Tag ausmachen.
    Abends schickte er Oscar früher als gewöhnlich nach Hause. »Ich habe alle Zeit der Welt«, sagte er, einer der traurigsten Sätze überhaupt, wie er bei sich feststellte. Und im selben Augenblick erinnerte er sich, dass dies schon seit Jahren Francescas trauriger Alltag war. Er dachte daran, sie anzurufen, um ihr zu sagen: »Voilà, jetzt bin auch ich frei wie ein Vogel.« Aber er hatte wenig Lust, über sich selbst zu sprechen. Mit einem jungen Mann diskutierte er lange über die Synkope in der Prosa von Christian Gailly, dann zwang er sich, nach den Anweisungen der

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