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Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman

Titel: Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Cossé
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alten Floristin Wasser in die Vasen zu füllen, schloss die Buchhandlung ab und ging zu Fuß nach Hause. Er kam gar nicht mehr auf den Gedanken, die Metro oder irgendein anderes Fahrzeug zu benutzen.
    Auf seiner Fußmatte, mit dem Rücken an die Tür gelehnt, saß Anis. Als sie ihn sah, stand sie auf, sah ihn flehend an, legte den Finger an die Lippen und schlang ihm die Arme um den Hals. So standen sie, in enger Umarmung, eine Ewigkeit, bis sie ins Schwanken gerieten und zu fallen drohten.
    Ivan schloss die Tür auf, wobei er Anis mit einem Arm um ihre Hüfte festhielt, dann legte er ihr den anderen Arm unter die Knie und trug sie zum einzigen Sessel des Hauses, um sie dort mitten zwischen die Bücher zu setzen. Sie schüttelte den Kopf. Er hob sie wieder vom Sessel und legte sie auf den dunkelblauen Batikstoff, der ihm als Bettüberwurf diente. Sie hatte die Augen geschlossen, und er ging zum großen Fenster, zog die Vorhänge beiseite und öffnete es weit, um den Mondschein hereinzulassen. Er wagte es nicht, sich umzudrehen, er hatte Angst, am liebsten wäre er wie Anis auf Lebenszeit vom Sprechen befreit gewesen. Als er sich nah an ihrem Kopf neben das Bett kniete, sah er, dass sie die Augen nicht wieder geöffnet hatte. Er wartete einige Minuten und musste dann einsehen, dass sie schlief.
    Am nächsten Morgen hatte sie nicht nur die Sprache wiedergefunden, nein, das wäre zu wenig gesagt. Sie sprach zwei Stunden in einem durch. Eine nach der anderen legte sie ihre Ängste in Vans Hände – die Annäherungsversuche des Raubtiers, die Augen, die nicht ins Gesicht sahen, die rohen Hände, die Gerüche, die einem noch tagelang an der Haut klebten – diese Kinderängste, die nicht vergingen und die sie daran hinderten, erwachsen zu werden, übergab sie nun ihm. Van nahm sie auf sich, er schwor es ihr. Sie wollte ihm glauben. Sie sprach von den Blüten des Topfbäumchens, die so außergewöhnlich dufteten und die sie, in der Hoffnung, daran zu sterben, eine nach der anderen hinuntergeschluckt hatte, von dem tiefen Schlaf, in den diese letzte Wegzehrung sie hatte fallen lassen, von ihrer Verzweiflung, als sie wieder aufwachte, von der schriftlichen Arbeit, mit der sie schon seit Monaten nicht mehr weitergekommen war, von den unterbezahlten kleinen Jobs spät am Abend und früh am Morgen, von der Erschöpfung, vom Hunger.
    Van hörte ihr zu und ordnete ihr Haar auf dem Kopfkissen zu einem strahlenden Fächer.
    »Die Arbeit musst du fertig schreiben.«
    Sie lachte.
    »Ach, das Studium … Wenn du wüsstest, wie egal es mir ist, jetzt, wo ich Buchhändlerin bin.«
    Sie hatte schon so lange von dieser Arbeit in der Buchhandlung geträumt. Tags darauf würde sie anfangen, oder am selben Nachmittag, so bald wie eben möglich.
    »Liebe verleiht Flügel«, sagte sie, ging nackt, wie sie war, zur Wand und legte die Wange und die Hände auf die Stelle, wo ein Mann mit Schirmmütze und eine junge Frau, beide völlig flügellos, dennoch lächelnd schwebten.
    Van vertraute ihr an, es sei etwas Neues an ihr, was ihn sehr glücklich mache, aber er werde es ihr nur verraten, wenn sie verspreche, es nicht wieder zu ändern. Sie versprach es. Sie seien vom Sie zum Du übergegangen. Das sei ihr gar nicht aufgefallen. Und er wusste nicht, wann es geschehen war. Was ihm auch sehr lieb war. Endlich etwas, das weder sie noch er beschlossen hatte, dachte er. Zu sagen wagte er es nicht, weiß der Teufel, warum.
    Woher ich das weiß? Ganz einfach. Ich habe diese Geschichte nicht erfunden. Alles, was ich hier berichte, habe ich von Ivan erfahren.

39
    S chlaf noch ein bisschen«, sagte Van. »Ich muss in die Buchhandlung. Ich ruf dich, nicht mehr Sie, an.«
    Er brannte darauf, Francesca zu sagen, dass ihre Idee, Anis Bedenkzeit zu geben, wunderbar gewesen sei, genauso wunderbar wie ihr Vertrauen zu dem, was er nicht gesagt hatte, dass nämlich Der gute Roman in dieser jungen Unbekannten genau die richtige Mitarbeiterin gefunden habe. Er sah schon das freundschaftliche Funkeln in Francescas Augen vor sich.
    Doch Francesca war an diesem Vormittag nicht in der Buchhandlung. Sie kam erst nach zwölf Uhr.
    »Ich habe auf Sie gewartet«, sagte Van.
    Sie verstand sofort.
    »Ist es so weit? Nimmt sie die Stelle an?«
    Van drückte ihr die Hände, bis sie schmerzten.
    »Sie hatte gar keine Zweifel«, erklärte er. »Sie träumte von dieser Stelle, das hat sie mir gesagt.«
    »Vorsicht«, warnte Francesca. »Jetzt geht es nicht mehr ums Träumen,

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